Bild nicht mehr verfügbar.

Der tunesische Oppositionspolitiker Shokri Belaid wurde von vier Kugeln getroffen.

Foto: AP

Bild nicht mehr verfügbar.

Nach dem Tod von Belaid gingen Tunesier auf die Straße, um gegen die Ermordung des Oppositionspolitikers zu demonstrieren.

Foto: EPA/Stringer

Bild nicht mehr verfügbar.

Menschen umringen den Krankenwagen, der den Leichnam Belaids abtransportiert.

Foto: AP Photo/Amine Landoulsi

Tunis/Madrid - Vier Mal wurde auf ihren Nachbarn geschossen, berichtete eine Augenzeugin des Mordanschlags auf den bekannten tunesischen Rechtsanwalt und Oppositionspolitiker Chokri Belaid. Zwei Männer warteten demnach Mittwochfrüh vor Belaids Wohnung in der Hauptstadt Tunis. Der 48-jährige Generalsekretär der marxistisch-panarabischen Vereinigten Partei der Demokratischen Patrioten (PPDU) starb im Krankenhaus, die Täter konnten per Motorrad flüchten.

Belaid, dessen PPDU seit einigen Monaten dem linken Bündnis Volksfront (FP) angehört, hatte die Troika (die Drei-Parteien-Koalition rund um die islamistische Ennahda) immer wieder scharf kritisiert. Erst am vergangenen Wochenende hatte Belaid der Regierung und dem Innenministerium vorgeworfen, Gewalt gegen Oppositionelle nicht nur zuzulassen, sondern sogar politisch zu fördern. "Jedes Mal, wenn die Troika auf ein Problem stößt, wird ein Zeichen gegeben, damit in der Folge Gewaltakte stattfinden!"

"Ich beschuldige Ennahda"

Angehörige und Freunde Belaids sehen die Verantwortung für den Mord bei der Regierung und deren Umfeld: "Ich beschuldige Ennahda und (deren Führer Rachid) Ghannouchi persönlich des Mordes an meinem Mann! Das Innenministerium hat aufgehört die Tunesier zu beschützen!", rief Ehefrau Besma Belaid zwischen Wut und Trauer vor laufenden Kameras. Auf ihrem Kleid waren Flecken des Blutes ihres Mannes zu sehen. Auch Belaids Anwaltskollege und FP-Weggefährte Hamma Hammami gab der Regierung die Verantwortung für die Bluttat.

Seit Monaten kommt es in Tunesien immer wieder zu Übergriffen gegen Oppositionelle, Gewerkschafter, Gruppierungen der Zivilgesellschaft und Frauenorganisationen. Dahinter steckt, so die Opposition, die Liga zum Schutz der Revolution: der Ennahda nahestehende gewalttätige Milizen. Wenn die Angegriffenen die Polizei um Hilfe und Schutz bäten, würden sie einfach ignoriert - so auch Belaid.

Erst am Wochenende wurde ein Meeting mit Belaid überfallen. Die nur wenige Meter entfernt stationierte Polizei rückte trotz mehrerer Anrufe beim Innenministerium aber nicht zum Einsatz aus.

Jebali will Expertenregierung bilden

Ennahda-Premier Hamadi Jebali kündigte am Mittwochabend in einer Fernsehansprache die Bildung einer "Regierung der nationalen Kompetenz" aus unabhängigen Experten an. Diese solle ein beschränktes Mandat "bis zur Abhaltung von Wahlen binnen kürzester Frist" haben. Priorität dieser Regierung werde es sein, eine Verfassung auf die Beine zu stellen, für die Sicherheit des Landes zu sorgen und gegen die hohen Lebenshaltungskosten vorzugehen. Wann genau die alte Regierung aufgelöst und eine neue eingesetzt werden soll, sagte er nicht.

Mehrere tunesische Oppositionsgruppen hatten zuvor zu einem Generalstreik für Donnerstag aufgerufen. Sie kündigten an, vorerst nicht mehr in der verfassungsgebenden Versammlung mitarbeiten zu wollen. 

Polizist kommt ums Leben

Am Rande der Proteste kam es nach Augenzeugenberichten zu Ausschreitungen. Die Polizei setzte Schlagstöcke und Tränengas ein. In Regierungsbezirken wie Monastir, Sfax und Le Kef verwüsteten Demonstranten Ennahda-Gebäude. Auch in der Stadt Sidi Bouzid kam es zu Gewalt. Ein Polizist kam bei gewaltsamen Zusammenstößen ums Leben, das tunesische Innenministerium bekannt gab. Der Beamte wurde von mehreren Steinen getroffen.

Führende EU-Politiker zeigten sich besorgt. "Die wachsende Zahl an politischen Gewalttaten durch extremistische Gruppen ist eine Gefahr für den politischen Wandel", schrieben die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton und EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle in einer in Brüssel verbreiteten Erklärung. Der Mord habe Tunesien eine seiner mutigsten und unabhängigsten Stimmen genommen, betonte Frankreichs Präsident Francois Hollande. Bundesaußenminister Guido Westerwelle rief alle politisch Verantwortlichen auf, das Erbe der friedlichen Revolution zu bewahren.

Belaïd ist bereits der zweite Oppositionspolitiker, der seit dem Sturz von Langzeitpräsident Zine al-Abidine Ben Ali Anfang 2011 gewaltsam ums Leben kam. Im vergangenen Oktober starb bereits Lotfi Naguedh nach einem Angriff von Regierungsanhängern. Er soll nach einer Prügelattacke einen Herzinfarkt erlitten haben.

Ennahda weist Beteiligung an Mord von sich

Regierungspolitiker wiesen in Stellungnahmen jegliche Verantwortung für den neuen Todesfall zurück. Die Polizei werde alles dafür tun, den Mörder von Belaid so schnell wie möglich zu fassen. Jebali rief die Bevölkerung zur Besonnenheit auf. Ennahda-Parteiführer Rachid Ghannouchi sagte: "Das ist ein Verbrechen, dass (...) die ganze Nation, ihre Stabilität und den demokratischen Übergang bedroht."

Staatspräsident Moncef Marzouki bezeichnete die Tat in einer Rede vor dem Europaparlament in Straßburg als Versuch, einen Keil zwischen das säkulare und das islamistische Lager zu treiben. Marzouki vertritt die Mitte-links-Partei "Kongress für die Republik" (CPR) in der von den Islamisten geführten Koalition. Dritte Kraft ist die sozialdemokratische Partei Ettakatol (FTDL) um Mustapha Ben Jaafar. Er leitet die verfassungsgebende Versammlung. (Reiner Wandler, DER STANDARD/red, derStandard.at, 7.2.2013)