Gemeinden wie die Alttiroler Ladinersiedlung Verseil ziehen heute viele Zuzügler an. Davon zeugen auch zahlreiche Neubauten .

Foto: Steinicke

Als der Innsbrucker Geograf Ernst Steinicke 2006 in der kalifornischen Sierra Nevada eine Tourismusstudie durchführen wollte, machte er eine überraschende Beobachtung: Statt der erwarteten Landflucht fand er in den Bergen prosperierende Dörfer vor. Diese Tatsache ließ den Wissenschafter nicht mehr los - und so wurde schließlich eine Studie über das damals noch kaum bekannte Phänomen der "Counterurbanisierung" daraus.

"Wir waren dort mit einer neuen Form der Migration konfrontiert", berichtet Steinicke. "Viele Menschen aus der gehobenen weißen Mittelschicht kehrten den Ballungszentren den Rücken und verlegten ihren Lebensmittelpunkt in die Berge. Dort fanden sie, was sie sich für ein angenehmes Leben wünschten: Natur, Sicherheit, die Abwesenheit sozialer und ethnischer Konflikte etc."

Wesentliche Voraussetzungen für diesen neuen Migrationstrend: gute Infrastruktur, neue Kommunikationsmöglichkeiten, die es den Zuzüglern erlauben, ihre Arbeit in der Stadt zeitlich zu reduzieren oder vor Ort zu erledigen. Ein ähnliches Phänomen hatte Steinicke bereits in den italienischen Alpen bemerkt. "Die waren bis in die 1990er-Jahre ein klassisches Entvölkerungsgebiet. Seit damals aber wachsen die alpinen Dörfer plötzlich wieder." Unbemerkt seien die italienischen Alpen ein riesiges Zuwanderungsgebiet geworden. "Zwar praktizieren die Norditaliener das 'Wohnen im Grünen' schon seit mehreren Generationen, doch diese Zweitwohnsitze haben in den letzten 20 Jahren eine viel größere Bedeutung bekommen", sagt Steinicke. Hatten sie früher vor allem eine touristische Funktion, leben die Menschen heute oft permanent oder zumindest regelmäßig für längere Zeiträume dort.

Kulturelle Auswirkungen

"In italienischen Berggemeinden ist der Wohnraum nach wie vor günstiger als in den Städten", sagt Steinicke. "Deshalb findet man neben den Wohlstands- und Remigranten auch Gastarbeiter aus völlig anderen Kulturkreisen, die von dort aus zu ihrer Arbeit in die Tourismusorte pendeln."

Da sich in den italienischen Alpenregionen aufgrund ihrer Abgelegenheit und kleinräumigen Struktur bis heute zahlreiche autochthone Bevölkerungsgruppen mit ihren eigenen Sprachen und Traditionen halten konnten, stellte sich für den Geografen vor allem die Frage nach den kulturellen Auswirkungen dieser Zuwanderung. Immerhin gibt es in Westeuropa nirgendwo sonst eine derart große ethnolinguistische Vielfalt, zahlreiche teils vom Aussterben bedrohte Sprachen werden hier gesprochen: etwa das Friulanische im alpinen Friaul.

Steinickes Hypothese: Der neue Migrationstrend wird zu einer verstärkten kulturellen und damit auch sprachlichen Assimilation führen. Seine vom Wissenschaftsfonds FWF finanzierte Untersuchung konnte diese Annahme nur zum Teil bestätigen. "Die Zuwanderer aus den Städten sind meist sehr an der lokalen Kultur interessiert", sagt er. "Viele unterstützen die regionalen Kulturvereine und engagieren sich selbst in der Traditionspflege. Allerdings handelt es sich dabei eher um die Aufwertung einer symbolischen Ethnizität, mit der die Assimilation nicht aufgehalten werden kann."

Eine Ausnahme gibt es allerdings: den ladinischen Kulturraum in Südtirol. "Heute ist es 'schick', ein Ladiner zu sein", sagt Steinicke. " Die rund 40.000 Ladiner in den Dolomiten sind die einzige ethnische Minderheit mit eigener Sprache, die wächst." Ein Phänomen, das durch Remigration nicht erklärt werden kann.

"Eine zentrale Rolle spielt sicher das ausgeprägte ladinische Selbstbewusstsein", vermutet er. So müssen etwa im Gröden- und im Gadertal in Südtirol Lehrer eine Dreisprachigkeitsprüfung für Deutsch, Italienisch und Ladinisch ablegen, wodurch man das Überleben der Sprache sichert.

Obwohl sich die wissenschaftliche Geografie seit Jahrzehnten verstärkt mit ethnischen Fragen beschäftigt, existierte bislang keine zuverlässige Gesamtdarstellung der lokalen Verbreitung und zahlenmäßigen Stärke autochthoner ethnolinguistischer Minderheiten im Alpenraum.

Eine Forschungslücke, derer sich Steinicke und seine Mitarbeiter angenommen haben. Da die Sprache zur ethnischen Abgrenzung in manchen Fällen nicht ausreicht, haben die Wissenschafter auch die subjektiven ethnischen Identifikationen zu ermitteln versucht und in ihre Untersuchung aufgenommen. Erschwert wurde ihre Arbeit zudem durch ein italienisches Gesetz von 1999, das Minderheiten außerhalb der autonomen Regionen finanzielle Unterstützung zusichert. Daraufhin haben sich nämlich viele Gemeinden als Minderheiten präsentiert, in denen die ethnische Sprache schon längst durch das Italienische ersetzt worden war.

Diese Verzerrung konnten die Forscher berichtigen und haben erstmals eine zuverlässige Basis für eine Folgenabschätzung des neuen Migrationstrends geschaffen. Steinickes Fazit: "Die Zuwanderung verändert die ethnischen Proportionen signifikant und stärkt letztlich die italienischsprachige Mehrheitskultur. Die große Ausnahme ist jedoch Südtirol, wo die Zuwanderung sehr restriktiv gehandhabt wird." (Doris Griesser, DER STANDARD, 06.02.2013)