"Je höher die Dimension, desto weniger Geometrie sieht man", sagt der Mathematiker und Computerwissenschaftler Herbert Edelsbrunner.

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STANDARD: Sie sind der erste Österreicher, der einen "Mega-Grant" der russischen Regierung bekommen hat. Wie gestaltet sich die Arbeit in Russland?

Edelsbrunner: Wir haben in Jaroslawl ein Labor aufgebaut. Dort sind etwa 50 Forscher involviert, noch einmal so viele in Moskau. In Russland sind die Distanzen und Unterschiede größer. Die Leute sehen einen größeren Unterschied zu Moskau als die Steirer zu Wien. Dass sie zusammenfinden, ist ein großes Stück Arbeit.

STANDARD: Welche Anwendungen werden dort entwickelt?

Edelsbrunner: Eine, für die ich mich besonders interessiere, ist Endoskopie. Wir möchten von den Bildern aus dem Magen schließen, ob jemand Krebs hat. Die Bildqualität ist das Problem. Es gibt wenige Mediziner, die das erkennen. Wir möchten das so weit automatisieren, dass in jedem Spital Bilder klassifiziert werden können.

STANDARD: Wie steht es um den Technologietransfer in Russland?

Edelsbrunner: Die Grundlagenforschung ist noch immer sehr stark, aber es hapert an der Umsetzung. Es gibt jede Menge junger Mathematiker, die fantastisch sind. Die Verbindung zwischen Informatik und Mathematik ist aber schwach. Wer Anwendungen entwickelt, braucht Computer.

STANDARD: Ihr Forschungsgebiet ist die "algorithmische Geometrie". Was kann man sich darunter vorstellen?

Edelsbrunner: Es ist leichter, es von der Anwendungen her zu sehen, die sehr alltäglich sind. Wenn der Zahnarzt eine Füllung macht, muss ein Teil des Zahnes ersetzt werden. Jeder Zahnersatz muss die richtige Form haben. Es geht um die Frage, wie ich geometrische Formen mit dem Computer erfassen und dann verwenden kann. Wir haben etwa Protein-Modelle per 3-D-Drucker ausgedruckt. Es ist nach wie vor ein schwieriges wissenschaftliches Problem herauszufinden, wie Proteine, ein Grundbaustein jeder Zelle, geometrisch ausschauen. Chemisch wissen wir viel mehr über sie. Wie sie interagieren, hängt aber von der Geometrie ab.

STANDARD: Wie kommt man zu einem Protein-Modell?

Edelsbrunner: Man hat die chemische Struktur eines Proteins und möchte es simulieren. Das erhoffte Resultat ist die geometrische Form. Man kann sich die Form wie ein Gummiband vorstellen, das sich immer auf die gleiche Weise faltet. Die Regeln der Proteinfaltung sind aber ein ungelöstes Problem. Die Basisdaten bekommt man per Kristallstrukturanalyse. Dabei wird die Reflexion von Röntgenstrahlen rückberechnet.

STANDARD: Mit derselben Methode kann man auch große Datenmengen strukturieren. Wie geht das mit Geometrie zusammen?

Edelsbrunner: Die Daten sind höherdimensional. Je höher die Dimension, desto weniger Geometrie sieht man. Ein eigenartiges Kapitel. Jemand, der das nicht gewohnt ist, wird fragen: Gibt's vier Dimensionen? Oder fünf oder sechs? Ein Mathematiker stellt sich die Frage nicht. Ob ich lineare Gleichungen mit drei, vier oder fünf Variablen hinschreibe, macht keinen Unterschied.

STANDARD: Wie ist Ihr Zugang?

Edelsbrunner: Sagen wir, ich hab ein Problem mit fünf Dimensionen. Ich beschäftige mich damit und versuche es zu verstehen. Man kann bei kleinen Änderungen die Konsequenzen abschätzen. Irgendwann kriege ich die Illusion, dass ich das sehe. Das ist ganz eigenartig, weil ich es natürlich nicht sehen kann. Man könnte auch sagen, dass wir nur die Illusion von drei Dimensionen haben. Wir sehen voraus, was die Folgen von Aktionen sind. Wenn ich gegen die Tür renne, merke ich das, bevor ich es spüre, weil ich es sehe. Insofern ist die dritte Dimension genauso eine Illusion wie höhere Dimensionen.

STANDARD: Sie sind demnächst in Wien zu einer Debatte über Risiken in der Wissenschaft geladen. Geht man als etablierter Forscher noch Risiken ein?

Edelsbrunner: Risiko ist deshalb wichtig, weil wir in einem hochdimensionalen Raum leben und nur niedrige Dimensionen wahrnehmen. Manche arbeiten in eine Richtung, an die niemand sonst denkt. Alles, was wir machen, hat eine hohe Chance falsch zu sein. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Schritt falsch ist, ist überwältigend. Arbeitet sich jemand in eine neue Dimension vor, führt das meistens zu nichts. Das Ziel ist das Risiko zu vermeiden, aber trotzdem muss man es eingehen. Das zufällige Erobern der Welt ist sehr wichtig.

STANDARD: Fördert der Wissenschaftsbetrieb das Out-of-the-Box-Denken adäquat?

Edelsbrunner: Niemand fördert es, aber die Leute, die es tun, überleben den Forschungsalltag. Das Problem ist, dass die Regeln, die aufgebaut werden, sehr kurzlebig sind. Mein Gehalt wird im nächsten Jahr sicher nicht erhöht, wenn ich ein Risiko eingehe. Solange man Regeln so aufbaut, dass der Wissenschaftsbetrieb weiterlaufen kann und die Leute, die die Risiken eingehen, nicht ausgemerzt werden, ist es eigentlich okay.

STANDARD: Kritikern der guten Dotierung des IST Austria warf man Neid vor. Fühlen Sie sich beneidet?

Edelsbrunner: Wahrscheinlich schon, aber es ist mir nicht sehr gegenwärtig. Der Neid ist vielleicht in Österreich stärker ausgebildet als im Allgemeinen. (Alois Pumhösel, DER STANDARD, 6.2.2013)