In Moskau beziehungsweise Minsk war kein Bleiben: die Künstlerin Alina Kunitsyna (li.) und die Schauspielerin Yulia Izmaylova arbeiten und leben nun in Österreich.

Foto: Sabina Zwitter

STANDARD: Der Umgang mit der Punkband Pussy Riot, die wegen eines kritischen Auftrittes in einem Straflager gelandet ist, erklärt den Grad der künstlerischen Freiheit in Russland. Wie geht es Ihnen, wenn Sie an die Künstlerinnen in Gefangenschaft denken?

Yulia Izmaylova: Ich empfinde das als ungerecht und unmenschlich. Die Frauen haben Kinder, aber Russland ist eben nicht demokratisch, Russland ist autoritär.

Alina Kunitsyna: Die Künstlerinnen und Künstler in der ehemaligen Sowjetunion haben die Möglichkeit, sich entweder der Langeweile zu ergeben und sich tot zu stellen, oder sie begeben sich aus dem gesetzlichen Rahmen. Sobald man etwas schafft, fällt man auf. Und alles, was auffällt, ist verboten. Das ist wie ein Teufelskreis. Ich persönlich hätte meine Aggressionen gegen das System nicht in einer Kirche entladen, denn die orthodoxe Kirche nimmt heute eine völlig andere Rolle ein.

STANDARD: Lässt sie sich politisch vereinnahmen?

Kunitsyna: Ja. Generell stellt sich für mich aber die Frage, ob eine Kirche der richtige Ort für protestierende Kunst ist.

STANDARD: Es scheint, als ob Vor-Glasnost-Zeiten in Russland wiederkehren, als Künstler sich zensurierte Bücher unter dem Tisch zusteckten. Sind diese voraufklärerischen Zeiten abgelaufen?

Izmaylova: Für eine ganz kurze Zeit war es möglich, frei zu agieren. Aber schon 1994, noch vor Putin, musste mein Regisseur für sein FFK-Theater hinter Gitter. Die Machthaber störte, dass die Schauspieler unseres Theaters auf der Bühne nackt agierten. Der Regisseur war ein halbes Jahr in Untersuchungshaft. Dann wurde er freigelassen. Heute läuft die Zensur nicht mehr auf der Ebene von Büchern, sondern im Internet. Man muss zwar keine Todesangst wegen eines Blogeintrags haben, aber virtuell wird man ausgelöscht.

STANDARD: Und Sie haben für dieses politisch-kritische FFK-Theater gespielt?

Izmaylova: Ja, irgendwie heimlich. Denn mir war klar, dass ich sonst aus der Universität hinausgeschmissen werde. Eines Tages wurde ich für ein Frauenblatt interviewt, und da ich die Meinung äußerte, dass ich nichts gegen homosexuelle oder bisexuelle Beziehungen habe, wurde ich am nächsten Tag zum Dekan gerufen. Unter vier Augen teilte er mir mit, dass so eine wie ich nicht bei ihnen studieren dürfte, und dass er alles tun werde, um mich loszuwerden. Nach ein paar Wochen bin ich nach Österreich ausgewandert.

Kunitsyna: Meine Heimat Weißrussland steht dem um nichts nach. Putin agiert schlau, und Lukaschenko ist brutal, wie ein Landbursche. Er lässt Oppositionelle einfach verschwinden. Nach der Schule wurde mir klar, dass ich nicht an einer Kunstakademie studieren konnte, wo mir weißrussische Themen diktiert wurden. Mir wurde vorgeschrieben, was ich malen sollte. Es geht da nicht primär um Meinungsfreiheit. Einfach um mir treu zu bleiben und mich spüren zu können, musste ich gehen.

STANDARD: Sie haben Ihre Heimatländer verlassen. Wie gestaltet sich Ihr Sein zwischen zwei Welten?

Kunitsyna: Ich fühle mich nach wie vor sehr russisch. Man kommt nicht in Österreich an und fühlt sich gleich zugehörig. Man passt sich zwar an, eigentlich nützt man jedoch nur die neue Struktur, um das umzusetzen, was schon im Herkunftsland in einem schlummerte. An sich sind die Österreicher ja recht friedlich und nett, solange man die gleiche Hautfarbe hat, sich anpasst und seine eigene Kultur nicht zur Schau stellt. Geht ein Afrikaner die Straße entlang, macht das Bürgertum einen Schritt zur Seite.

Izmaylova: Fremdenfeindlichkeit ist ein globales Problem. Ich habe erlebt, wie in Moskau Ausländer totgeprügelt wurden, daher war ich in Kärnten positiv überrascht. Ausländer werden hier stigmatisiert und degradiert, aber sie werden nicht erschlagen. Mich fragen die Leute oft: Wo sind deine Stöckelschuhe, deine weißen Haare und deine quitschige Stimme?

STANDARD: Vermissen Sie als Künstlerinnen im Exil die "ruskaja dusa", die russische Seele?

Izmaylova: Die russische Seele ist ein Klischee, das vor allem die Russen sehr gerne bedienen. Ich kann mit diesen Nationalismen nichts anfangen. Wenn wir die schöne Seele haben, heißt das, dass alle anderen eine hässliche haben? Das mündet im Extremfall im Faschismus und widert mich an.

Kunitsyna: Vielleicht ist das ja ein Klischee, aber es gibt die russische Seele. Die russische Sehnsucht nach Schmerz ist einzigartig, fast poetisch. Die Menschen stehen sich näher, auch körperlich. Das Leben in Russland ist hart und viele flüchten in die Trinksucht. Die Menschen trinken nicht, weil sie dumm sind, sondern um zu vergessen. Eine Lebensschule, die viel Erfahrung und auch eine gewisse Weisheit des Volkes in sich birgt.

STANDARD: Ihr künstlerisches Schaffen spiegelt klar russisches Kunstverständnis wieder. Wer sind Ihre Impulsgeber? Spielt die Stanislawski-Schule, bei der sich der Schauspieler in das zu spielende Wesen verwandelt, eine Rolle?

Izmaylova: Wir gehen nicht den Stanislawski-Weg. Wir gehen unseren Weg und sehen uns in erster Linie als Literaturtheater und vor allem auch als politisches Theater. Bei Vada sind unsere Vorbilder die Künstler der Zwischenkriegszeit, die Dadaisten, die Futuristen, die Oberiuten. Durch den Zweiten Weltkrieg sind diese wichtigen Strömungen untergegangen. Wir greifen zurück und entwickeln diese Bewegungen weiter. Wir arbeiten in kleinen Räumen, denn es geht uns im Theater nicht um Körperlichkeit, sondern wir wollen den Menschen Geschichten erzählen. Sprachverliebt - wir spielen meist zwei- oder dreisprachig - geht es uns vor allem um den Klang. Sehr gerne würden wir auch tschetschenische Literatur auf die Bühne bringen.

Kunitsyna: Mein Impulsgeber ist der Alltag. Ich bemerke aber, dass ich kritischer werde, meine letzte Arbeit beschäftigt sich mit der Rolle der Frau im Islam. Theater kann Dinge mit Worten festschreiben, die Malerei ist eine Ikone. (Sabina Zwitter, DER STANDARD, 5.2.2013)