Zeugen einer alten, selbstbewussten Bürgerstadt: Giebel am Hauptplatz von Kosice/Kaschau/Kassa. 

Foto: Gregor Mayer

Neues Leben zwischen Plattenbauten: ehemalige Heizhäuschen als lokale Kulturzentren. 

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Die ostslowakische Metropole Kosice, mit Marseille Europäische Kulturhauptstadt 2013, hat viele Gesichter.

Etwas mehr als sechs Stunden dauert es mit der Bahn von Wien nach Kos ice, inklusive Umsteigen in Bratislava. Zusammen mit dem südfranzösischen Marseille ist die ostslowakische Metropole heuer Europäische Kulturhauptstadt. Sie zeichnet sich durch Randlagen aus. Kos ice – deutsch Kaschau, ungarisch Kassa - liegt am westlichen Ausläufer der Karpaten und zugleich an der nördlichen Peripherie der ungarischen Tiefebene – und am östlichen Rand des alten Mitteleuropa.

"Kommen Sie nach Kosice, hier hat es ein besonderes Feeling", wirbt Ján Sudzina, der Organisationschef des Kulturhauptstadt-Jahres. Er empfängt im Weißen Haus (Biely dom), einer gigantischen Funktionärsburg aus kommunistischer Zeit im Randviertel Terasa. Heute logiert dort die Kommunalverwaltung. "Wir wollen die Stadt transformieren, sie zu einem Zentrum der Kreativität machen", erklärt Sudzina. In seiner Biografie hat er selbst so manche Transformation durchgemacht, vom Exportkaufmann im Stahlwerk über den Konzertorganisator und Verlagsleiter bis zum obersten Kulturjahr-Manager.

Östlichster gotischer Dom

So wie auch der Charakter der Stadt im Lauf der Zeit mehrfach umdefiniert wurde. Von Deutschen und Slawen gegründet, war Kos ice/Kaschau/Kassa eine der ersten freien – und entsprechend selbstbewussten – Städte des alten Königreichs Ungarn. Die prachtvolle Elisabeth-Kathedrale ist der am östlichsten gelegene gotische Monumentalbau Europas. Die malerische Altstadt, die sich um den Hauptplatz (Hlavná) gruppiert, kündet vom produktiven Nebeneinander von Slowaken, Ungarn, Deutschen und Juden. Für Sándor Márai, den weitgereisten Schriftsteller ungarischer Zunge und vielleicht größten Sohn der Stadt, war es eine Quelle der Inspiration (siehe "Sándor Márai: Der Bürger, sein Mythos und seine Karikatur").

Faschismus und Kommunismus setzten der multikulturellen Bürgerlichkeit ein Ende. Unter der Verwaltung des ungarischen Horthy-Staates wurden fast 16.000 Juden aus Kosice und Umgebung nach Auschwitz deportiert, die wenigsten überlebten. Über den Bahnknoten Kosice wurden die Auschwitz-Transporte auch für zehntausende andere Juden aus Ostungarn abgewickelt.

Im Kommunismus wurde Kosice zur Vorzeige-Industriemetropole der CSSR. Das Stahlwerk beschäftigte 24.000 Arbeiter. Die Stadt wuchs gewaltig, riesige Plattenbausiedlungen verbreiteten sich über die umliegenden Hügel. Im Kulturhauptstadt-Jahr, in dem allein von der EU 60 Millionen Euro lockergemacht werden, will man diese urbanen Räume für die Kultur nutzbar machen.

Das Schwimmbad aus den 1950er-Jahren ist wegen einer Fehlplanung seit vielen Jahren außer Betrieb. Jetzt soll daraus ein Kunsthaus werden, mit der größten Sammlung zeitgenössischer Kunst in der Slowakei. Aus der brachliegenden Kaserne aus der k. u. k. Zeit soll wiederum ein Kulturpark wachsen, mit kleinen Galerien, Designer-Werkstätten, Bühnen und Cafés, ein wenig dem Wiener Museumsquartier nachempfunden.

Hin zu den Menschen

Die Kulturhauptstadt-Macher setzen nicht nur auf die geplanten 360 Events, darunter viel Avantgardistisches wie die New Dance Days im Oktober oder die Welttage der Neuen Musik im November. Mit dem Projekt Spoty (Spots) geht man mitten unter die Menschen in den Plattenbau-Siedlungen. Die Spots sind stillgelegte Verteilerstationen für die Fernwärme. Seit 2008, als Kosice die Kulturhauptstadt-Würde zugesprochen bekam, werden diese Häuschen bunt angemalt und in kleine Grätzel-Kulturzentren umfunktioniert. "Wir wollen Kultur dezentralisieren, die Bürger unmittelbar beteiligen", sagt der Franzose Christian Potiron, einer der Initiatoren.

Der karpatendeutsche Maler und Kunstpädagoge Helmut Bistrika aus dem Nachbardorf Medzev (dt. Metzenseifen) arbeitet viel mit Behinderten, mit Pensionisten und Roma-Kindern, immer wieder auch in den neuen Spots. Auch er sieht im Kulturhauptstadt-Jahr viele Chancen. "Kultur besteht nicht nur aus Events und Konzerten", lautet sein Credo. "Kultur hat doch auch damit zu tun, wie wir miteinander umgehen. Wenn auch in den nächsten Jahren etwas davon bleibt, dann hätte die Stadt viel gewonnen." (Gregor Mayer, Crossover, DER STANDARD, 5.2.2013)