Ausdruck der "Aber ich will das so"-Rhetorik im deutschen Fernsehen: "Das Dschungelcamp". Im Bild Kandidatin Georgina.

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Ausgestellte Normen: Lady Gaga sorgte 2010 mit ihrem sexy "Fleischkleid" für Furore.

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Paula Irene Villa ist Professorin für Soziologie und Gender Studies an der Ludwig-Maximilians Universität München.

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Die zweite Frauenbewegung hat einige äußerst eingängige Slogans hinterlassen. "Our Bodies our Selves" oder "Mein Bauch gehört mir" wurden zu unvergessenen Leitsätzen einer angestrebten kollektiven Selbstermächtigung. Viele zeitgenössische Künstlerinnen der Populärkultur - von Lady Gaga bis Katy Perry - knüpfen gerne an das Bild der autonomen Herrscherin über Körper und Handeln an - allerdings in einer markttauglicheren Variante. In dieser werden politische Forderungen für alle durch "Empowerment" für den eigenen Körper, das eigene Handeln ersetzt. 

Auch nackte Haut und Pornoästhetik werden mit dem Label "Selbstermächtigung" versehen und avancieren so zu einem wichtigen Instrument im Kampf um Aufmerksamkeit. Paula Irene Villa, Professorin für Soziologie und Gender Studies in München, sprach kürzlich in Wien bei ihrem Vortrag "Ich bin doch kein Stück Fleisch! Oder doch?" über diese Ambivalenz. Beate Hausbichler fragte sie, wie aus einer Forderung für alle ein Label für jeweils eine werden konnte und was das alles mit einer schier panischen Angst vor einem Opfer-Status zu tun hat.

dieStandard.at:
Sie sprachen in Ihrem Vortrag darüber, dass Stars wie Lady Gaga ein gebrochenes Verhältnis zur herrschenden Pornografisierung in der Popkultur repräsentieren. Woran ist das zu erkennen?

Paula-Irene Villa: Wie schon Madonna, thematisiert auch Lady Gaga ihr eigenes Spiel mit dieser Pornografisierung. Sehr deutlich wurde das an Lady Gagas Fleischkleid, das sie bei den MTV-Awards trug und mit dem sie zeitgleich auf dem Cover der japanischen Männer-Vogue zu sehen war. Das Kleid macht einerseits eine traditionell-sexy Silhouette, es ist aber aus einem sehr verstörenden Material. Sie weiß, Blicke und Normen zu bedienen und diese Normen gleichzeitig als solche auszustellen - dieses Spiel beherrscht Lady Gaga sehr gut.

dieStandard.at: Kritische BeobachterInnen scheinen bei Lady Gaga unschlüssig zu sein, ob sie politische Diskurse in Gang bringt, oder die übliche Ökonomie der Aufmerksamkeit bedient.

Villa: Diese Unklarheit macht diese Figuren ja so erfolgreich. Bei Madonna ging dieses Thema über Jahrzehnte. Bestimmte politische Kontexte können an Madonna oder Lady Gaga angeschlossen werden, aber eben niemals ganz. Sie verstören immer wieder die Erwartungen oder Projektionen. Ob sie das bewusst machen oder nicht, das spielt gar keine große Rolle.

dieStandard.at: Eine Ihrer Thesen ist, dass sich Lady Gaga oder auch Beth Ditto so inszenieren, wie sie es tun, um sich von einem Opfer-Status abzugrenzen. 

Villa: Ja, dabei geht es mir um diese Pornografisierungsästhetik, die in der Populärkultur so präsent ist. Gerade für Frauen ist es in der Populärkultur wichtig, sich als empowered, als fähig oder als autonomes Subjekt zu setzen. Die Pornografisierungsästhetik wird von Künstlerinnen genutzt, um zu zeigen: Schaut her, ich kann mit diesen Codes souverän spielen.

dieStandard.at: Warum ist der Begriff "Opfer" zu so einem starken Stigma geworden?

Villa: Wir leben in einer Zeit, in der sich die Individualisierungsthesen ideologisch völlig durchgesetzt haben. Es herrscht das Bild des unternehmerischen Selbst. Es gibt derzeit nichts Schlimmeres als Abhängigkeit; Autonomie ist der Fetisch unserer Zeit. "Opfer" ist daher die monströse Kehrseite und muss auf Abstand gehalten werden. Jede Form von Angewiesenheit wird sofort als Opfer-Mentalität diskreditiert. Dieses Tabu spiegelt sich natürlich auch in der Populärkultur. 

Entwickelt hat sich dieses Tabu aus verschiedenen Gründen. Es hat mit dem Umbau in Westeuropa von wohlfahrtsstaatlichen Systemen zugunsten einer starken Marktförmigkeit zu tun, mit dem Schwinden gesellschaftlicher Solidarität oder mit enormen Sorgen und Ängsten vor Abstieg.

dieStandard.at: Hat auch der Feminismus selbst die Panik vor einem "Opfer-Status" mitbegründet?

Villa: Ja. Für feministische Forderungen, die Frauengesundheitsbewegung oder andere Kontexte aus der zweiten Frauenbewegung etwa war Autonomie das Leitmotiv - mit den allerbesten Absichten! In dieser Zeit waren diese Autonomieabsichten allerdings kollektiv gerahmt. Es ging darum, sich selber neu zu entdecken, sich zu finden, aber immer mit anderen zusammen; in Gruppen, in Projekten. Im Laufe der Zeit hat sich das gewandelt. 

Manche sagen, es wurde pervertiert, andere meinen, das sei die logische Konsequenz gewesen. Wie auch immer: Das damalige Leitmotiv "Autonomie" ist in die heute herrschende Fetischisierung von Autonomie eingeflossen, die heute völlig marktkonform ist. Ohne es zu wollen, hat die Frauenbewegung ihren historischen Anteil daran.

dieStandard.at: Die damaligen kollektiven Kämpfe unterstützen heute also völlig andere Bestrebungen?

Villa: Wir müssen uns immer wieder mit der Ambiguität von Protestformen und Haltungen beschäftigen. Die Kontinuität der Autonomiesemantiken, die emanzipatorisch so wichtig waren, ist irritierend: "Mündigkeit", "Befreiung aus der Herrschaft", "Selbsterkenntnis", "Selbstermächtigung" oder "Empowerment" - diese Anliegen haben die Gesellschaft zum Guten verändert. Aber genau diese Anliegen sind nun auch für ganz andere Zwecke verwertbar, etwa zur Darstellung von Schönheitschirurgie im Fernsehen. Jede Debatte über diese Formate wird mit "Aber ich will das so" beendet: Mein Körper gehört mir - deshalb lass ich mir das Fett absaugen. Mein Körper gehört mir - deshalb gehe ich ins Dschungelcamp. Das ist eine ganz wichtige Rhetorik geworden.

dieStandard.at: "Natürliche Schönheit" spielt bei Katy Perry, Lady Gaga oder auch Beth Ditto keine Rolle mehr. Viel Schminke, Perücken und Kostümierungen stehen im Mittelpunkt.

Villa: Natürlichkeit spielt in der Populärkultur überhaupt keine Rolle mehr. Performance ist nun die zentrale Kategorie - von der geht Populärkultur inzwischen aus. Natürlichkeit ist out. Aber das heißt nicht, dass Authentizität, Verbindlichkeit und Aufrichtigkeit damit ad acta gelegt werden. Wenn etwa Lady Gaga explizit Performance macht, mit Kostümen usw., heißt das nicht, dass sie nicht als authentisch wahrgenommen wird. 

Es wird viel darüber geredet, ob Sängerinnen glatte oder gelockte Haare oder Strähnen haben - aber deshalb, weil das interessant ist, und nicht, weil es um die Frage geht, ob das echt ist oder nicht. Es gibt keine Aufmerksamkeit mehr für Personen, die Performance nicht beherrschen. Das zeugt letztlich von einer Einsicht darüber, dass wir alle konstruiert sind und eine Performance herstellen.

dieStandard.at: Geht es also eher darum, die Arbeit an etwas auszustellen als das Ergebnis selbst?

Villa: Arbeit ist da vielleicht nicht ganz die richtige Chiffre, aber man könnte es mit dem Modus der Herstellung beschreiben. Man soll sehen, dass etwas bewusst gemacht wird, dass jemand sich Mühe gibt, eine interessante Bühnenfigur zu schaffen.

dieStandard.at: Können wir mit diesen ästhetischen Überlegungen eigentlich auch etwas zu den drängenden frauenpolitischen Themen wie sexuelle Gewalt beitragen?

Villa: Die zunehmende Unsicherheit von Berufs- oder sonstigen Biographien spiegelt sich auch in diesen Phänomenen wieder. Man kann nicht über Populärkultur reden, ohne auch über Prekarisierungsprozesse zu reden. Außerdem: Sexualisierte Gewalt ist ja wieder sehr präsent, nicht erst seit den infamen Vorfällen in Indien. Da formiert sich aus dem Kontext von Populärkulturen sehr viel Aktivität, etwa bei den Slut Walks, bei denen es auch um Verkleidung und Performance geht. (Beate Hausbichler, dieStandard.at, 3.2.2013)