Die tschechischen Kommentatoren sind sich ziemlich einig darüber, dass das Thema Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei bei der jüngsten Präsidentenwahl eine entscheidende Rolle gespielt hat. Wie kommt es, dass ein Ereignis, das mehr als sechzig Jahre zurückliegt, heute noch die Volkswahl zwischen einem linken und einem konservativen Kandidaten so stark beeinflussen kann? Milos Zeman gegen Karl Schwarzenberg: Das war nicht so sehr ein Wettkampf zwischen links und rechts als eine Auseinandersetzung über die jüngere Geschichte Mitteleuropas.

Österreichern müsste die Struktur dieser Auseinandersetzung bekannt vorkommen. Über schmerzhafte Episoden in der eigenen Vergangenheit redet man zunächst eine Generation lang gar nicht. Dann kommt die nächste Generation und will wissen, vereint mit den Intellektuellen und den kritischen Geistern im Lande, was wirklich geschehen ist, wie es dazu kam und wer schuldig geworden ist. Und dann erst beginnt sich in der breiten Öffentlichkeit ein Konsens darüber zu bilden, wie man mit der Geschichte umzugehen hat. Das kann dauern.

Nicht dass man die Ermordung und die Vertreibung der Juden aus Österreich mit der Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei, auch diese von zehntausenden Todesopfern begleitet, auf eine Stufe stellen könnte. Die Deutschen wurden nach Bayern vertrieben, die Juden in die Todeslager im Osten. Die Vertreibung der Deutschen war von der internationalen Gemeinschaft, vertreten durch die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, als das kleinere Übel sanktioniert. Die Vertreibung der Juden war international von Anfang an als Verbrechen erkannt. Aber in beiden Fällen mussten unschuldige Menschen leiden und sterben.

Historiker, Intellektuelle und Studierende in Tschechien haben seit Jahr und Tag das Schicksal ihrer vertriebenen einstigen Landsleute penibel erforscht und dokumentiert. In Aussig/Ústí nad Labem gibt es seit Jahren ein Museum zur Geschichte der Deutschböhmen.

Aber erst eine Frage des Präsidentschaftskandidaten Zeman an seinen Gegner Schwarzenberg in einer TV-Debatte löste eine republikweite Diskussion aus. Ob es wahr sei, hatte Zeman wissen wollen, dass Schwarzenberg seinem damaligen Chef Václav Havel geraten habe, sich bei den vertriebenen Deutschen zu entschuldigen. Schwarzenbergs Antwort: Nach heutigen Standards sei die Sache eine schwere Menschenrechtsverletzung gewesen, zu ahnden beim Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. Die Debatte wird so bald nicht verstummen. Es spricht für die Tschechen, dass der "Nestbeschmutzer" trotzdem von 45 Prozent der Wahlberechtigten und einer soliden Mehrheit der Jungwähler gewählt worden ist. Auch die Bewohner der Hauptstadt Prag haben ihm mehrheitlich ihre Stimme gegeben.

Die Österreicher haben in einem langen und schmerzhaften Lernprozess die Überzeugung gewonnen, dass sie mit dem Verlust ihrer jüdischen Landsleute selbst ärmer geworden sind. Bei den tschechischen Nachbarn hat dieser Lernprozess beim letzten Präsidentschaftswahlkampf einen kräftigen Schub vorwärts gewonnen. (Barbara Coudenhove-Kalergi, DER STANDARD, 31.1.2013)