Neben den oft peinlich-populistischen Argumenten gegen die geplante EU-Richtlinie für öffentliche Dienstleistungen - Stichwort Wasserraub - tauchen in vielen Kommentaren Bedenken auf, die viel ernster zu nehmen sind. Demnach sind die Pläne Teil einer neoliberalen Gesamtstrategie, mit der die EU-Kommission Privatisierungen, Marktliberalisierung und uneingeschränkten Wettbewerb in ganz Europa vorantreiben will. Selbst wenn sie jetzt niemanden zum Wasserverkauf zwingen wolle, so sei die Zurückdrängung der öffentlichen Wirtschaft ihr langfristiges Ziel.

Der Glaube, die EU-Beamten seien die Speerspitze eines neoliberalen Marktfetischismus, ist nicht nur in Österreich weitverbreitet. In Großbritannien würde diese Beschreibung nur Gelächter hervorrufen. Dort gilt Brüssel als Hochburg des marktfeindlichen Interventionismus. Und auch auf dem Kontinent stehen viele liberale Experten dem Binnenmarktkommissar Michel Barnier, der die umstrittene Konzessionsrichtlinie betreibt, skeptisch gegenüber. Sie befürchten, dass der Franzose instinktiv dem Staat mehr traut als den Marktkräften.

Aber wie kommt es, dass sich die Kommission in den großen wirtschaftspolitischen Debatten immer wieder auf der wirtschaftsliberalen Seite wiederfindet? Drei Gründe liegen nahe:

Erstens ist die Kommission ein Spiegelbild der politischen Einstellungen in den 27 Mitgliedsstaaten; und da ist Österreich etwas marktskeptischer sowie regulierungs- und staatsgläubiger als der Durchschnitt. Das führt zu Spannungen.

Zweitens sind EU-Beamte von Natur aus Technokraten. Sie vertrauen auf ökonomische Theorien und wissenschaftliche Erkenntnisse; sie haben wenig Verständnis für nationale Befindlichkeiten und irrationale Ängste. Wenn ihre Labors keine Gesundheitsgefahren durch Gentechnik nachweisen können, dann treten sie für die Zulassung ein, selbst wenn sich manche Verbraucher fürchten. Auch an die Wasserversorgung und andere Dienstleistungen gehen die EU-Planer nüchtern heran und drängen auf Modelle, die effizient und sparsam sind.

Drittens - und das ist das Wichtigste - ist die Förderung des Wettbewerbs für die EU-Kommission nicht nur ein Ziel unter vielen, sondern ihr zentrales Anliegen. Damit Europa zusammenwachsen kann, müssen nationale Hürden überwunden, wirtschaftliche Schutzwälle abgebaut und Freiräume geschaffen werden. Die Freiheit des Waren-, Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehrs, die in den EU-Verträgen verankert ist, ist nicht nur ein ökonomisches, sondern noch viel mehr ein europapolitisches Projekt.

Kommission und Marktbefürworter ziehen daher meist am gleichen Strang; ihre Gegner sind nationale Politiker, die vom Gemeinwohl sprechen, aber vor allem lokale Sonderinteressen fördern. Zu diesem Kampf gehört auch das Aufbrechen von Staatsmonopolen in Bereichen, in denen es bessere und billigere Anbieter aus anderen EU-Staaten gibt.

Die Vorlagen der Kommission sind immer maßvoll und werden im politischen Prozess noch verwässert. Aber wer jeden Wettbewerb als neoliberalen Unfug sieht, wird alles ablehnen, was aus Brüssel kommt - egal von welchem der Kommissare. Für sie alle ist ein von Zäunen durchzogener Wirtschaftsraum mit Integration unvereinbar. Die Alternative zu dieser Ideologie ist nicht ein anderes, sondern gar kein gemeinsames Europa. (Eric Frey, DER STANDARD, 30.1.2013)