Wien - "Baue es und du verstehst es" - diesem Ansatz folgt eines der beiden am Montag von der EU-Kommission vorgestellten "Future and Emerging Technologies Flagship"-Projekte (FET-Flaggschiff), das Human Brain Project (HBP). In den kommenden zehn Jahren wird etwa eine Milliarde Euro investiert werden, um mehr oder weniger das gesamte Wissen über die Abläufe im menschlichen Gehirn in eine Computersimulation zu packen. Das soll den Wissenschaftern dabei helfen, das Zusammenspiel der komplexen Prozesse zu entschlüsseln und somit eine neue Ära in den Neurowissenschaften und der pharmakologischen Wirkstoffforschung einleiten. Im Mittelpunkt des anderen FET-Flaggschiffs der EU steht Graphen.

Gehirnforschung

Seit 200 Jahren wird am Gehirn geforscht, 200.000 Neurowissenschafter widmeten bisher etwa fünf Millionen wissenschaftliche Aufsätze seinem Verständnis. All diese Erkenntnisse sollen nun in einer gigantischen Computerplattform gebündelt werden, die dann als virtuelles Untersuchungsobjekt der Wissenschaft zur Verfügung stehen wird. Mit der Umsetzung werden tausende Forscher in etwa 200 Forschungsgruppen unter der Leitung des südafrikanischen Hirnforschers Henry Markram von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (Schweiz) beschäftigt sein.

"Wir müssen endlich all das Wissen der verschiedenen Disziplinen über das Gehirn integrieren. Das ist eine Strategie für das 21. Jahrhundert", so Markram 2011 im Zuge eines Vortrags am Institute of Science and Technology (IST) Austria. Die technischen Anforderungen werden entsprechend hoch sein. Im Vorgängerprojekt des HBP, dem "Blue Brain Project", verschlangen bereits die Berechnungen für ein einziges Neuron in etwa die Kapazitäten eines Laptop-Computers, so Markram in einem Vortrag. Der Forscher und seine Kollegen betonten in den vergangenen Jahren aber immer wieder, dass es sich bei ihrer Vision nicht um eine Utopie, sondern mittlerweile um ein umsetzbares Vorhaben handelt.

IST Austria beteiligt

"Es ist eine große Ehre, an einem solchen interdisziplinären Projekt beteiligt zu sein", erklärte der Hirnforscher Peter Jonas vom IST. Er rechnet jedoch nicht damit, dass durch den Zuschlag für seine Kernforschung wirklich große Summen hinzukommen. "Ich denke aber trotzdem, dass die Mitarbeit an dem Projekt eine sehr sinnvolle Sache ist. Denn wir werden auf der einen Seite dem HBP nützen, indem wir experimentelle Daten erheben, die ganz konkret gemessen und in Modelle eingebaut werden können." Jonas und seine Kollegen erforschen etwa sehr detailliert die Abläufe im Hippocampus, also jenem Teil des Gehirns, der entscheidend für Gedächtnis, Lernen, Erinnerung und Raumorientierung zuständig ist.

Die Forscher sind extrem daran interessiert, ihre akribische Detailarbeit mit den anderen Abläufen im extrem verzweigten Netzwerk des Gehirns in Verbindung zu bringen. Jonas: "Man könnte also herausbekommen, wie sich diese auf zellulärer und molekularer Ebene abspielenden Erkenntnisse auf einer Netzwerkebene auswirken." Zwischen dem Verhalten eines Menschen und den grundlegenden Prozessen gebe es einen "ganz großen Spalt". Die "Simulationswelt" könnte helfen, "diese beiden Aspekte näher zusammenzubringen. Wir müssen ja zu einem Gesamtverständnis des Gehirns kommen", so Jonas.

Involvierte österreichische Forschungseinrichtungen

Neben Jonas und seinem Team wird auch der Vorstand des Instituts für Grundlagen der Informationsverarbeitung der Technischen Universität Graz , Wolfgang Maass, beteiligt sein und Alois Saria, Vorstand der Abteilung für Experimentelle Psychiatrie an der Medizinischen Universität Innsbruck, ist Teil des Managementteams des Vorhabens. Robert Trappl von der Österreichischen Studiengesellschaft für Kybernetik (OSGK) ist ebenfalls an Bord. 

Wolfgang Maass wird Umsetzungsstrategien aus der theoretischen Informatik beisteuern. In Graz gebe es "vermutlich mehr Informatiker, die sich mit dem Gehirn befassen, als irgendwo sonst - proportional sicher, absolut wahrscheinlich auch", erklärte er in der Planungsphase des Projekts. "Konkret stellen wir uns als Leiter des Arbeitspaketes 'Brain Computing Principles' der Frage, wie typische neuronale Schaltkreise funktionieren und ob sich Ihre Arbeitsweise auf Computerbausteine im Nanobereich übertragen lässt", so Maass.

Alois Saria wird die Ausbildung der Nachwuchswissenschafter, den sogenannten "Educational Pillar" des Projekts, organisieren. Um an der Entwicklung der Simulation mitzuhelfen und sie dann auch sinnvoll nützen zu können, wird es nämlich fächerübergreifendes Wissen aus Bereichen wie den Neurowissenschaften, der Genetik, der angewandten Mathematik, den Computerwissenschaften, der Robotik und aus sozialwissenschaftlichen Fächern brauchen.

Wie Robert Trappl, Leiter des Österreichischen Forschungsinstituts für Artificial Intelligence der OSGK erklärte, habe das Institut seit vielen Jahren Pionierarbeit auf dem Gebiet der Entwicklung von Persönlichkeitsmodellen mit besonderer Berücksichtigung der emotionalen und sozialen Aspekte geleistet. "In unseren Simulationen haben wir besonderen Wert darauf gelegt, die aktuellen Erkenntnisse der Hirnforschung zu berücksichtigen. Das Human Brain Projekt ist daher in idealer Weise geeignet zur Integration und zum Testen unserer Forschungsergebnisse." (APA, 28.1.2013)