Stabile Finanzmärkte und der Ausbau des Sozialstaats stärkten die Zuversicht von Unternehmern und Haushalten, bei hohem Wachstum war die Staatsverschuldung 20 Jahre lang gesunken: Als ich 1972 als Wirtschaftsforscher zu arbeiten begann, herrschte Vollbeschäftigung. Heute ist das BIP pro Kopf mehr als doppelt so hoch wie damals, gleichzeitig erreichen Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung den höchsten Stand seit 1945. Die Jungen können kaum "normale" Jobs bekommen, Wohnraum wird teurer, das "Flüggewerden" immer schwieriger.

Auf welchem Weg gelangten die europäischen Gesellschaften von dem einen in den anderen Zustand, an welcher Navigationskarte orientierten sich die Eliten? 1971 "entbinden" sich die USA von den Bretton-Woods-Regeln, das System fester Wechselkurse bricht zusammen, der Dollar verliert bis 1973 und nochmals zwischen 1976 und 1979 je 25 Prozent an Wert, die Ölexporteure reagieren mit zwei "Ölpreisschocks", die wiederum zwei Rezessionen auslösen - Ende der Wirtschaftswunderzeit.

Die massive Dollarentwertung verleitet die Entwicklungsländer, immer mehr Dollarkredite aufzunehmen und so ihre Importe auszuweiten. Dies stabilisiert das Wachstum der Weltwirtschaft, um den Preis steigender Gläubiger- und Schuldnerpositionen.

1980 wechselt die US-Notenbank zu einer radikalen Hochzinspolitik, eine massive Aufwertung des Dollars und damit von Dollarschulden sind die Folgen. Dieser "Häuslbauereffekt" löst 1982 die Schuldenkrise der Entwicklungsländer aus, es folgt das "verlorene Jahrzehnt" Lateinamerikas.

Aus dieser Entwicklung leitet eine Arbeitshypothese für die nachfolgenden 30 Jahre ab: Das rationale Verhalten von Akteuren kann in seinem Zusammenwirken verheerende Kettenreaktionen bewirken. Sie werden durch Finanzspekulation massiv verstärkt, denn diese verursacht manisch-depressive Schwankungen ("Bullen- und Bärenmärkte") von Wechselkursen, Rohstoffpreisen, Aktienkursen und Zinssätzen.

Rational waren: für die USA die Aufgabe der Goldbindung des Dollar, für die Entwicklungsländer die Aufnahme billiger Dollarkredite, für die Notenbanken Inflationsbekämpfung durch Hochzinspolitik, für die Devisenhändler Spekulation zuerst auf einen fallenden und dann auf einen steigenden Dollarkurs. Resultat: An die drei Millionen Tote, wenn man annimmt, dass auch nur ein Prozent der Bevölkerung Lateinamerikas im " verlorenen Jahrzehnt" vorzeitig verstarb - eine "leise Katastrophe".

Eine solche Sicht erschien der "scientific community" der Ökonomen abwegig. Diese konzentrierte sich auf die Restauration des "Laisser-faire-Weltbilds": Die "unsichtbare Hand" des Markts lenkt alle Prozesse auf den besten Weg, wenn sie sich nur frei entfalten kann. Also wurden Finanzmärkte dereguliert und Finanzderivate geschaffen.

Damit verschoben sich die Anreizbedingungen von unternehmerischer Tätigkeit zu Finanzspekulation: Industriekonzerne verwandelten sich in Finanzkonglomerate, Großbanken in Artisten der selbstreferenziellen Geldvermehrung, das Wirtschaftswachstum sank, Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung nahmen zu.

Die systemischen Ursachen dieser Entwicklung konnten mit "neoliberaler Brille" nicht wahrgenommen werden. Also verordneten die Mainstream-Ökonomen Symptomkuren: Sparpolitik und Senkung von Löhnen und Arbeitslosengeld. Seit den 1990er-Jahren nahmen Staatsverschuldung, Arbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigung zu. Gleichzeitig boomten Aktienkurse, Rohstoffpreise und Immobilienpreise und bauten so das Potenzial für die große Krise auf: die Koinzidenz für drei Bärenmärkte, die gleichzeitige Entwertung der drei wichtigsten Vermögensarten.

Nach kurzem Schock wird seit drei Jahren in Europa jener Kurs verschärft, der aus der gleichen Navigationskarte abgeleitet wird, die in die Krise geführt hatte. Gleichzeitig feiert die Finanzalchemie ihr großes Comeback.

Sparpolitik, Lohn- und Pensionskürzungen, die Zerschlagung kollektivvertraglicher Lohnbildung zerstören in Südeuropa die Reste des " Europäischen Sozialmodells". Erfolg: Noch nie sind Staatsverschuldung und Arbeitslosigkeit so stark gestiegen wie seit Verschärfung der Kur. Da müsse man durch, meinen die Eliten und verordnen den Fiskalpakt.

Harmonie der Täuschungen

Der Virologe und Wissenschaftstheoretiker Ludwik Fleck schreibt schon 1935: "Ist ein ausgebautes, geschlossenes Meinungssystem (...) einmal geformt, so beharrt es beständig gegen über allem Widersprechenden." Fleck nennt ein solches in sich logisches Weltbild ein System der "Harmonie der Täuschungen". Präziser lässt sich die herrschende Gleichgewichtstheorie nicht charakterisieren.

Mehr als eine Generation von Ökonomen ist in diesem Weltbild erzogen worden, sie sitzen nun in allen mächtigen Institutionen. Für die Folgen ihrer Empfehlungen müssen sie nicht einstehen. Dieses "moral hazard-Problem" hat ungleich schlimmere Folgen als die Disziplinlosigkeit der Länder in Südeuropa.

Das Schwierigste am Lernen ist das Ver-Lernen, und Irrtümer zugeben fällt den Eliten besonders schwer. Also wird sich für Millionen Menschen die "leise Katastrophe" vertiefen. Soziale und individuelle Depression hat den Widerstand der meisten schon gebrochen.

Und das Expertenwissen fehlt ihnen auch. (Stephan Schulmeister, DER STANDARD, 28.1.2013)