Konrad Paul Liessmann fordert verpflichtenden Ethikunterricht für alle und nicht nur als "Restfach" für Religionsabmelder.

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STANDARD: Österreich schleppt das Thema Ethikunterricht seit 1997 als Schulversuch mit, und noch immer gibt es keine politische Entscheidung, ob und wenn ja, in welcher Form Ethikunterricht eingeführt werden soll. Was sagt uns dieses Gezerre über dieses Land und sein Verhältnis zur Religion?

Konrad Paul Liessmann: Wir können den Ethikunterricht offensichtlich nur im Zusammenhang mit Religion und Religionsunterricht diskutieren. Ursprünglich wollte man etwas für die Schüler tun, die sich von Religion abmelden und in dieser Zeit keinen Unterricht haben, eine schulorganisationstechnische Maßnahme. Da kam die Idee des Ethikunterrichts, der sich in anderen Ländern aus ganz anderen Überlegungen durchgesetzt hat. Mittlerweile wird so diskutiert, als gälte: Entweder haben Menschen eine Religion, dann sind sie moralisch gefestigt, oder sie haben keine, dann brauchen sie Ethikunterricht. Das sehe ich anders.

STANDARD: Warum?

Liessmann: Weil unsere ethische Tradition, die in der Antike wurzelt, etwa in der aristotelischen Philosophie, älter ist als die christliche Moral. Aristoteles lebte bekanntlich im vierten Jahrhundert vor Christi Geburt. Wir haben viele ethisch-moralische Argumente, Ideen der Gerechtigkeit, Tugend, des rechten Maßes, des guten Lebens, des Glücks, die alle Zentralbegriffe einer nichtchristlichen Philosophie sind, nicht zuletzt der Begriff der "Ethik" selbst. Das möchte ich ins Bewusstsein rufen, zumal es nicht nur viele unterschiedliche religiöse Bekenntnisse gibt, sondern auch mehr Menschen als je zuvor, die sich zu keiner Religion bekennen. Gerade in so einer Zeit ist ein verbindlicher Ethikunterricht für alle wesentlich stringenter zu argumentieren als Ethik als bloßes Restfach für jene, die keine Religion haben.

STANDARD: Sagen Sie: Ethik für alle und Religionsunterricht aus dem staatlichen Lehrplan hinaus?

Liessmann: Nein. Ich möchte nicht, dass Religion aus dem Bildungskanon herausfällt. Ich würde Ethik und Religion bis zu einem gewissen Grad voneinander entkoppeln und das hochtrabend mit Hegel formulieren: Ich glaube, Religion ist so wie Philosophie, Wissenschaft und Kunst eine Erscheinungsform des objektiven Geistes. Religion gehört zu unserer Kultur, Religionen gehören zu unseren Kulturen. Kenntnisse religiöser Texte und Ikonografie gehören zur Bildung.

Wenn es die Möglichkeit gäbe, konfessionell gebundenen Religionsunterricht aus den Schulen auszulagern, würde ich für ein religionswissenschaftlich fundiertes Fach "Religionskunde" plädieren, in dem junge Menschen ungeachtet ihres religiösen Bekenntnisses in die wichtigsten Weltreligionen eingeführt werden. Natürlich können sie im Rahmen der religiösen Gemeinschaft, der sie angehören, einen Religionsunterricht genießen, aber das muss nicht unbedingt die Aufgabe einer öffentlichen Schule sein. Religionen sind ja keine Anleitung zum guten Leben in einer offenen Gesellschaft. Gerade der Christ muss das wissen.

STANDARD: Inwiefern?

Liessmann: Christen muss doch klar sein: Religionen sind Anleitungen zum rechten Glauben oder angelehnt an Sören Kierkegaard: Dem Christen geht es um seine ewige Seligkeit, aber nicht um das glückselige, gute Leben hier. Religionen bekommen ihre Gebote von Gott. Die säkulare Ethik unterscheidet von jeder religiösen Moral, dass in der säkularen Ethik Richtlinien des Handelns diskutiert und argumentiert werden müssen. Gegen göttliche Gebote kann ich nicht argumentieren, ich kann sie nur verwässern. Für gläubige Menschen setzen Argumente ein religiöses Gebot nicht außer Kraft. Aber gute Argumente können in einer säkularen Ethik sehr wohl zu einer Neuorientierung führen - sie entspricht also viel mehr dem, was eine moderne Gesellschaft auszeichnet.

STANDARD: Wie viel Religion verträgt eine säkulare Demokratie?

Liessmann: Eine säkulare Demokratie verträgt viel mehr Religion als jede Religion. Warum? Die Idee der Religionsfreiheit, die überhaupt erst so etwas wie eine Pluralität der Religionen zuließ und uns aus den Religionskriegen der Vormoderne befreite, ist selber ein Produkt der religionskritischen Aufklärung. Religionen haben nie nach Religionsfreiheit gerufen, im Gegenteil. Die dominanten Religionen wollten immer die nicht dominanten Religionen verbieten, verfolgen, ausrotten. In einer religiösen Gesellschaft gibt es die dominante Religion und die Ketzer.

STANDARD: Sollen oder können auch Religionslehrer Ethik lehren?

Liessmann: Von der Natur der Sache sind die Philosophielehrer für den Ethikunterricht prädestiniert. Klar, auch Religionslehrer erhalten eine fundierte philosophische und ethische Ausbildung, aber ein Religionslehrer ist konfessionell gebunden und untersteht einer kirchlichen Behörde. Mir wäre das Liebste, es gäbe auch eine sehr gute universitäre Ausbildung zum Ethiklehrer, also ein Lehramtsstudium Ethik. Wenn dann jemand Religionspädagogik und Ethik studiert, kann er Ethik genauso unterrichten, wie er Mathematik unterrichten kann, wenn er Religionspädagogik und Mathematik gewählt hat, auch wenn ich es mir nicht ganz einfach vorstelle, unter Umständen im Ethikunterricht etwas ganz anderes lehren zu müssen als im Religionsunterricht. Vielleicht sollte man Religionslehrer erst gar nicht diesem Gewissenskonflikt aussetzen.

STANDARD: Es gibt immer öfter gesellschaftliche Debatten zu komplexen ethischen Themen wie Pränataldiagnostik, Sterbehilfe oder etwa der Beschneidungsfrage. Welchen Stellenwert sollen da religiöse Debattenbeiträge bekommen?

Liessmann: Ich bin sehr dafür, dass die religiösen Argumente und Befindlichkeiten in diesen Zusammenhängen gehört werden. Das sind Traditionen, die vorhanden sind, die gelebt werden. Jeder, der sich einer religiösen Moral verpflichtet fühlt, soll, wenn irgend möglich, nach seiner Religion entscheiden können. Zeugen Jehovas lehnen aus religiösen Gründen die Bluttransfusion ab. Zumindest für erwachsene Menschen sollte das gelten können. Oder Präimplantationsdiagnostik: Wenn wer aus religiösen Gründen diese Optionen einer technisch avancierten Reproduktionsmedizin ausschlägt, soll er oder sie die Möglichkeit und das Recht haben, das zu tun.

STANDARD: Aber der Staat soll die breitere Möglichkeitspalette anbieten beziehungsweise erlauben?

Liessmann: Ja, die Regeln, die für alle gelten, können nicht Resultat einer Religion sein. Ich etwa stehe modernen Formen der Euthanasie sehr skeptisch gegenüber, würde aber, wenn ich diesen Vorbehalt zu einem Gesetz machen wollte, nicht religiös argumentieren - etwa dass Euthanasie ein Übel sei, weil der Mensch als Geschöpf Gottes nicht das Recht habe, über das Ende seines Lebens zu bestimmen. In einer säkularen Gesellschaft muss ich auf nichtreligiöse Konzepte, etwa die Würde des Menschen, wie man sie bei Immanuel Kant findet, zurückgreifen, wenn ich solch eine für alle verbindliche Regel begründen will.

STANDARD: Was hieße das für die Beschneidung? Da stehen sich das religiöse Argument und das auf körperliche Unversehrtheit gegenüber.

Liessmann: Nüchtern betrachtet ist eine Beschneidung eine Form von Körperverletzung am Kind, die wir in nichtreligiösen Kontexten wahrscheinlich nicht tolerieren würden. Die Geschichte, die damit verbunden ist, und die Bedeutung, die dieses Ritual etwa für das Judentum und die Diaspora hat, müssen mitberücksichtigt werden. Aber der Staat muss sich auch um das Recht des Kindes in dieser Gruppe kümmern. Es gibt das Elternrecht, und es gibt das Recht, dass Kinder in Religionen hineingeboren werden. Das stellen wir an sich nicht an Abrede, außer dort, wo es Extremformen annimmt, die mit menschenrechtlichen Vorstellungen kollidieren.

Es würde wahrscheinlich kaum jemand auf die Idee kommen, die (christliche) Taufe infrage zu stellen, weil Kinder sich nicht frei entscheiden können. Aber man stelle sich vor, die Taufe bestünde darin, dass man nicht ein Kreuz mit geweihtem Wasser auf die Stirn macht, sondern ein Brandmal an eine intime Stelle setzt. Würde man da auch sagen: Nicht so schlimm, das Kind hat dann halt eine schöne Tätowierung? Oder würde die Debatte anders verlaufen? Im Grunde stehen wir vor dem Problem, dass das abstrakte Recht immer mit historischen Erfahrungen, Traditionen und Ritualen in Konflikt treten kann, die nicht einfach ignoriert werden können. Aber das Projekt der Aufklärung bestand auch darin, solche Traditionen und Praktiken zu hinterfragen. Es kommt auch hier auf Sensibilität und Augenmaß an. (Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 26.1.2013)