An einem Augusttag im Jahr 1860 schleppte ein Fotograf der k. k. Hof- und Staatsdruckerei mit seinen Assistenten eine riesige Fotoausrüstung auf das Turmdach des Stephansdoms und fertigte von einem Gerüst auf der Turmspitze aus zwölf großformatige Aufnahmen der Stadt an. Zusammen ergaben sie ein beinahe geschlossenes Rundum-Panorama des "alten Wien" - was heute von unschätzbarem dokumentarischem und stadthistorischem Wert ist.

1929 wurden die Fotografien zusammen mit Orientierungsskizzen erstmals in limitierter Auflage in einer Halbleinenmappe veröffentlicht. Walter Öhlinger, Kurator für Stadtgeschichte im Wien Museum, hat die Aufnahmen von damals reproduziert und mit einem Stadtplan von 1858 und Beschreibungen des jeweiligen Blicks auf die Stadt in dem Buch "Rundblick vom Stephansturm" neu herausgebracht. derStandard.at präsentiert hier sieben dieser Aufnahmen.

Im Bild: Blick Richtung Alsergrund und Leopoldstadt, die heutigen Bezirke 9 und 2. Links in der Bildmitte die Kirche Maria am Gestade, im Vordergrund der Hohe Markt zwischen den Häuserschluchten. Bildmitte: der Donaukanal mit Augartenbrücke und Kaiserbad. Im Hintergrund der Augarten und die Donau, Leopoldsberg und Kahlenberg.

Foto: Verlag Winkler-Hermaden/Österr. Staatsdruckerei

1860 wurden Gustav Mahler, Theodor Herzl und Hugo Wolf geboren; die Frauenrechtlerin Rosa Mayreder war gerade einmal zwei Jahre alt. Der junge Kaiser Franz Joseph I. regierte seit 1848, und noch umgaben dicke Mauern und die Grünflächen des Glacis den Kern der Residenz- und Reichshauptstadt Wien. Noch - denn der Kaiser hatte bereits den Befehl zur Modernisierung und Erweiterung der Stadt gegeben.

An vielen Teilen der Mauer wurde bereits mit den Abbrucharbeiten für die Errichtung der Wiener Ringstraße und ihrer Prachtbauten begonnen. Am 1. Mai 1865 wurde diese, umgeben von Großbaustellen, feierlich eröffnet.

Im Bild: Blick Richtung Leopoldstadt (2. Bezirk). Im Vordergrund die Innenstadt mit Lugeck und Rotenturmstraße (re.), in der Mitte Donaukanal, Franz-Josefs-Kai und Ruprechtskirche. Hinten rechts die Karmeliterkirche. Im Hintergrund rechts der Augarten mit Augarten-Palais und die Donau.

Foto: Verlag Winkler-Hermaden/Österr. Staatsdruckerei

Die Panorama-Aufnahmen vom Turm des Stephansdoms hatten schon 1865, bei ihrer erstmaligen Präsentation bei der Internationalen Photographischen Ausstellung in Berlin, die Fachwelt beeindruckt.

Auch andere Wiener Fotografen hatten damals die Zeichen der Zeit erkannt und versucht, "Alt-Wien" für die Ewigkeit zu dokumentieren und festzuhalten. Architektur war damals auch deshalb ein beliebtes Fotomotiv, weil die statischen Motive gut mit den langen Belichtungszeiten der damaligen Kameras vereinbar waren.

Im Bild: Blick Richtung Leopoldstadt und Prater (Bezirke 2 und 3). Vorne der Heiligenkreuzerhof, in der Mitte der Donaukanal mit der Ferdinandsbrücke (heute Schwedenbrücke), nach der die Taborstraße beginnt. In der Bildmitte gegen Norden hin die Praterstraße mit Carltheater und Nepomukkirche. Rechts hinten, vor dem Prater: die Franzensbrückenstraße. Im Hintergrund: die Donau, der Prater und das Kaiserwasser (links), davor der Nordbahnhof.

Foto: Verlag Winkler-Hermaden/Österr. Staatsdruckerei

2003 machte Kunsthistoriker Klaus Walder die Panoramafotos vom Stephansturm zum Gegenstand seiner Diplomarbeit. Er fand unter anderem heraus, dass die Aufnahmen zwischen 13. und 15. August 1860 entstanden sein mussten. Leopold Weiß, damaliger Leiter der fotografischen Abteilung der k. k. Hof- und Staatsdruckerei, wird als Urheber vermutet.

Im Bild: Blick in Richtung Leopoldstadt und Landstraße, die heutigen Bezirke 2 und 3. In der Mitte die Universitätskirche mit Alter Universität und Akademie der Wissenschaften. Hinter der Kirche am Wienfluss liegt die 1900 abgerissene Franz-Josephs-Kaserne. Links im Bild der Heiligenkreuzerhof, im Hintergrund: das k. k. Hauptzollamt und die Praterauen.

Foto: Verlag Winkler-Hermaden/Österr. Staatsdruckerei

Blickt man in Richtung Landstraße (im Bild re.), lässt sich in der Mitte, über dem Glacis, gut der Standort des neuen Verlagsgebäudes von DER STANDARD und derStandard.at in der Vorderen Zollamtsstraße 13 ausmachen: Werden heute Nachrichten vom Weltgeschehen am Ufer des Wienflusses verarbeitet, befand sich dort 1860 die Staub- oder Stubenthor-Mühle nebst der Stubenthor-Brücke.

1905 wurde an dieser Adresse das Wiener Bürgertheater errichtet. 1960, in der Zeit des großen Wiener Theatersterbens, musste das Haus der neuen Hauptanstalt der Zentralsparkasse der Gemeinde Wien weichen.

Weiters im Bild zu sehen: das k. k. Haupt Zoll-Amt (li. hinten), weiter rechts davon das k. k. Invalidenhaus (nach ihm wurde die heutige Invalidenstraße benannt) sowie daneben Kirche und Kloster der Elisabethinen. Wo heute das Museum und die Universität für angewandte Kunst stehen, war damals eine grüne Erholungszone. Im Hintergrund: die Praterauen.

Foto: Verlag Winkler-Hermaden/Österr. Staatsdruckerei

Vergleicht man die Aufnahmen mit späteren Wien-Fotografien und -Stadtplänen, lassen sich eindrucksvoll die vielen Veränderungen der Stadt in den vergangenen 150 Jahren nachvollziehen.

Die Aufnahmen, in denen die Innenstadt zu sehen ist, verdeutlichen den weitreichenden städtebaulichen Wandel, der in den Jahren nach dem Fototermin auf das Zentrum der Stadt zukam. Um 1860 hatten auch viele behördliche Institutionen ihren Sitz noch in der Innenstadt. Wenige Jahre später zogen sie in die Gebäude der neu errichteten Ringstraße, während viele auf den Fotos noch sichtbaren Häuser in der City abgerissen wurden.

Im Bild: Blick Richtung Landstraße und Wieden (Bezirke 3 und 4). Vorne Kloster und Kirche der Franziskaner an der Weihburggasse mit der damals angrenzenden k. k. Hof- und Staatsdruckerei. Bildmitte: Glacis, rechts das Gebiet, auf dem 1862 der Stadtpark als zweite öffentliche Parkanlage Wiens eröffnet wurde. Südlich davon sieht man das Palais Coburg, hinter dem Glacis die Heumarktkaserne (von Marokkanergasse bis Schwarzenbergplatz). Im Hintergrund rechts: das Belvedere, dahinter das Arsenal und der Laaerberg.

Foto: Verlag Winkler-Hermaden/Österr. Staatsdruckerei

Walter Öhlinger (Hg.)
"Rundblick vom Stephansturm"
Panorama von Wien im Jahre 1860
Verlag Winkler-Hermaden 2012
56 Seiten mit zwölf ausklappbaren Fotografien plus Stadtplan von Wien anno 1858, 49,90 Euro

Im Bild: Blick in Richtung Wieden und Mariahilf, die heutigen Bezirke 4 und 6. Hinten Mitte: die Karlskirche. Rechts davon: das Polytechnische Institut, das heutige alte Gebäude der Technischen Universität. Bildmitte: die Anna-Kirche. (isa, derStandard.at, 28.1.2013)

Foto: Verlag Winkler-Hermaden/Österr. Staatsdruckerei