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Karlheinz Töchterle: "Nicht beherrscht werden".

Foto: apa/uniko/Preiss

Die im Athen des fünften Jahrhunderts v. Chr. erfundene Demokratie hat bei antiken Autoren insgesamt keinen guten Leumund. Das liegt in erster Linie wohl darin begründet, dass jene zumeist aus der Schicht der Aristokratie stammten, die im antiken Verfassungsdisput eine direkte Konkurrentin darstellte. Sehr schön wird dieser Disput in Ciceros De re publica abgebildet: In dessen erstem Buch erörtert Scipio (der Zerstörer Karthagos) seinen Gesprächspartnern die Vor- und Nachteile der Verfassungsformen Monarchie (für ihn die beste Einzelverfassung), Aristokratie und Demokratie (minime probandum, "am wenigsten akzeptabel" ), um dann eine Lanze für eine "gemischte Verfassung" zu brechen, wie sie sich in Rom im Laufe der Geschichte herausgebildet habe. Die Anregung hiefür fand Cicero beim griechischen Historiker Polybios, der Roms Größe in dessen Stabilität und diese in einer solchen Mischverfassung begründet sah. Andere Verfassungsformen neigten nämlich grundsätzlich zur Degeneration (Monarchie zu Tyrannis usw.) und provozierten damit Umstürze, wodurch ein Kreislauf von Verfassungen und damit permanente Instabilität entstehe.

Herrschaft des Volkes erreicht

Dieser Schematismus findet einen gewissen Rückhalt in der Historie, auch in der der führenden hellenischen Staaten Athen und Sparta. Während sich hier schon früh, etwa um 700 v. Chr., das Königtum mit Adel und Volk so arrangierte, dass eine über lange Zeiten einigermaßen stabile Verfassung entstehen konnte, wurde dort eine sagenhafte Monarchie durch eine fehdenreiche Aristokratie und diese im sechsten Jahrhundert durch die Tyrannis des Peisistratos und seiner Söhne abgelöst, die gegen dessen Ende hin innerem Widerstand und spartanischer Bedrohung weichen mussten. Dies gab den Auftakt zu einer Entwicklung, in deren Verlauf die Macht sich immer stärker zu allen männlichen und freien Bürgern der Polis hin verlagerte. Kurz vor Mitte des fünften Jahrhunderts war ein Zustand erreicht, der wenig später als "demokratía" ("Herrschaft des Volkes") bezeichnet wurde.

Wesentlich gekennzeichnet war die neu entstandene Verfassung durch einen enormen Machtzuwachs für die Volksversammlung, der nun alle wichtigen Entscheidungen und Kontrollbefugnisse zukamen, sowie durch eine Öffnung der politischen Funktionen für alle Bürger, womit, drittens, Repräsentation bzw. Delegierung von Macht weitgehend vermieden werden konnte. Damit erreichte die athenische Demokratie ihre wichtigsten Ziele, nämlich Gleichheit aller Bürger in der Teilhabe an politischer Macht und gleichzeitig größtmögliche Befreiung von jeglicher " Bemächtigung", in der "Politik" des Aristoteles im Rückblick als "das Nicht-beherrscht-Werden" (tò mè árchesthai) bezeichnet. Verstärkt wurden Gleichheit und Freiheit durch einige wichtige Begleitmaßnahmen, zum Beispiel den raschen und regelmäßigen Wechsel von Amtsträgern, das Zufallsprinzip der Auslosung oder durch Taggelder für die Teilnahme an der Volksversammlung, an der damit auch Taglöhner oder Handwerker ohne Verdienstentgang mitwirken konnten.

Revolutionäre Entwicklung

Insbesondere wenn man bedenkt, wie stark und wie werthaltig soziale Hierarchien in antike Diskurse eingeschrieben waren, ist das Ergebnis dieser Entwicklung zur Demokratie, auch wenn sie einen eher evolutionären Verlauf hatte, als revolutionär zu betrachten. Gut ermessen lässt sich das etwa an den entsprechenden Bezeichnungen von Ober- bzw. Unterschichten, die immer auch positiv oder negativ werten: Die oben heißen z. B. chréstoi ("Tüchtige") oder áristoi ("Beste", Aristokraten eben), die unten z. B. poneroí ("Notleidende", "Üble").

Die gleichberechtigte Mitwirkung derart Geringgeschätzter am politischen Geschehen hat natürlich von Anfang viel Kritik geerntet. Frühe Belege dafür finden sich in einer anonymen Schrift über die "Athenische Verfassung" (Athenaíon politeía) aus aristokratischer Sicht, zahlreiche dann in den Schriften Platons, der in seinem "Staat" ein elitäres Modell mit Philosophenkönigen empfahl. Er konstatiert dort auch das Einsickern demokratischer Denk- und Umgangsformen in die athenische Gesellschaft insgesamt. Davon scheinen alle schlechtergestellten Schichten bis hinunter zu den Sklaven profitiert zu haben, vor allem auch die Frauen, die laut Aristoteles diese Staatsform präferierten, auch wenn sie nach wie vor von politischer Mitwirkung ausgeschlossen waren. Auch dieses Manko wurde thematisiert, für uns fassbar in den "Ekklesiazusen", den " an der Volksversammlung (ekklesía) teilnehmenden Frauen", einer utopischen Farce des Komödiendichters Aristophanes. In anderen Stücken von ihm scheinen Krisen der athenischen Demokratie durch, die sie im späten fünften Jahrhundert, als Athen in langwährendem und verlustreichem Krieg mit Sparta stand, bis hin zu kurzfristigen Aufhebungen erleiden musste.

Goldene Epoche

Dennoch hatte diese Verfassung eine erstaunlich lange Dauer bis zur Besetzung Athens durch die Makedonen im Jahr 322, vielleicht mit einem kurzen Wiederaufleben noch im dritten Jahrhundert. Die Gründe für ihr Entstehen wie für ihren Erfolg - sie bescherte Athen ja die größte und bis in heutige Zeiten bewunderte Entfaltung politischer und geistiger Macht - sind vielfältig. Oft wird der Sieg gegen die eindringenden Perser angeführt. Diesen hatte man zwar mit Sparta und anderen Verbündeten zu teilen, der Seesieg von Salamis aber war sicher der athenischen Flotte und damit auch deren wendigen Matrosen und Ruderern aus den niederen Ständen geschuldet, die daraus hohes Selbstbewusstsein zogen. Eine bedeutende Rolle dürfte auch die bereits in der Tyrannis forcierte athenische Kulturpolitik gespielt haben. Der für Athen beanspruchte "Nationaldichter" Homer und vor allem die regelmäßigen dramatischen Festspiele haben wesentlich zu einem neuen "Bürgersinn" beigetragen. Ähnliches gilt für den ökonomischen Aufschwung, der sich im Gefolge der gewonnenen Perserkriege verstärkte und breitere Schichten erfasste.

So entstand ein Gebilde, das, bei aller Skepsis gegen Idealisierungen (vor allem mit seinen Bündnispartnern verfuhr Athen bisweilen brutal) und unter Vernachlässigung des nicht Vernachlässigbaren (dass es nämlich nur freie Männer betraf), in der Realisierung von Freiheit, Gleichberechtigung und Partizipation mit ganz wenigen Ausnahmen erst im 20. Jahrhundert da und dort wieder erreicht wurde. (Karlheinz Töchterle, DER STANDARD, 19.1.2013)