STANDARD-Schwerpunktausgabe
Direkte Demokratie

 

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Die Schweiz gilt Anhängern der direkten Demokratie als gelobtes Land. Keine wichtige Entscheidung auf Bundes-, Landes- oder Gemeindeebene wird ohne Mitbestimmung der Bevölkerung gefällt. Parlamente haben Verfassungsänderungen, Haushalte und bestimmte Gesetze obligatorischen Referenden zu unterwerfen. Passt dem Volk ein Gesetz nicht, kann es innerhalb von drei Monaten ein fakultatives Referendum fordern; auf Bundesebene sind dazu 50.000 Unterschriften nötig. Für eine richtige Volksinitiative müssen bundesweit 100.000 unterschreiben.

Dafür, dagegen

Das Abstimmungsverhalten der Schweizerinnen und Schweizer ist eigenwillig. 2009 stimmten sie für ein Minarettverbot, 2012 gegen mehr Urlaub und gegen das Rauchverbot in öffentlichen Räumen. Je emotionaler das Thema, umso höher ist die (prinzipiell niedrige) Wahlbeteiligung. Das Minarettverbot wurde mit 50 Prozent Beteiligung durchgesetzt, zur Abstimmung über schnellere Abschiebung gingen 53 Prozent. Durchschnittlich erreicht die Wahlbeteiligung aber keine 40 Prozent. Hohe Demokratiezufriedenheit könnte eine Erklärung für die niedrige Beteiligung sein, sagt der Liechtensteiner Politikwissenschafter Wilfried Marxer, aber auch Verdrossenheit - etwa über die vielen Urnengänge.

An vier Wochenenden pro Jahr wird in der Schweiz, meist per Briefwahl, abgestimmt. Der Abstimmungsreigen 2013 beginnt am 3. März. Je nach Kanton (Bundesland) oder Stadt haben die Bürgerinnen und Bürger über zehn und mehr Themen zu entscheiden. Die Skala reicht von nebensächlich bis folgenschwer, für Nichtschweizer ist die Themenvielfalt schwer nachvollziehbar. So wird in Zürich im März beispielsweise über Hauswirtschaftskurse an Mittelschulen abgestimmt, in Graubünden hingegen über die Finanzierung der Olympiabewerbung 2022. Gleich sind in allen Kantonen die bundespolitischen Themen: Das Parlament legt einen Verfassungsartikel zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie vor und eine Gesetzesnovelle zu sparsamen Umgang mit Grund und Boden. Beides sind obligatorische Referenden, halbdirektdemokratische Instrumente. Eine wirkliche Volksinitiative ist hingegen die Volksabstimmung gegen die Abzockerei, die überzogene Gehälter von Verwaltungsräten und Managern abstellen will.

Verschleppen, verwässern

Kritiker des Schweizer Systems stoßen sich weniger an der Zahl der Abstimmungen als an der Kollision von Rechtsstaatlichkeit und Volkswillen. Immer wieder verstoßen Initiativen gegen Grund- und Menschenrechte. Laut einer Untersuchung der Politikwissenschafterin Anna Christmann wurden in den letzten 20 Jahren zehn grundrechtsproblematische Initiativen lanciert. In der Schweiz fehlen handlungsfähige Gerichtssysteme um solche Entscheide zu bekämpfen, kritisiert Christmann. Direkte Demokratie ohne starkes Rechtsstaatsprinzip führe zum Dilemma, sagt Wilfried Marxer. Politiker stünden zwischen Volksentscheid und Grundrechten: "Die Lösung heißt dann oft verschleppen und verwässern." (Jutta Berger, DER STANDARD, 19./20.1.2013)