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Spaziert man von der Altstadt über die Galata-Brücke und dann an Karaköys Eisenwarenläden vorbei, wird allzu schnell klar: Lifestylemetropole ist Istanbul schon seit längerem.

Foto: REUTERS/Murad Sezer

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Anreise & Unterkunft

Direktflüge Wien-Istanbul mit Austrian und Turkish Airlines.

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Unterkunft: The Marmara Pera: im Herzen des Szene-Stadtteils Beyoglu. Das Designhotel organisiert Kunstausstellungen – herrliche Blicke vom Rooftop-Restaurant Mikla.
Kultur-Tipp: www.istanbulmodern.org; www.istanbulartinternational.com

Foto: The Marmara Pera

Istanbul-Ausstellung im Wiener MAK von 23. 1. bis 21. 4.

Foto: http://www.mak.at, Daire Gallery, Istanbul
Grafik: DER STANDARD

Istanbul im Winter. Die Störche sind bereits über die Stadt gezogen, in den Lokalen herrscht Rauchverbot, der Dauerstau auf der Bosporus-Brücke ist geblieben. Die vielen wärmenden Nischen, die die Stadt bietet, sowieso. Cafés und Lokantas versüßen die Teepause mit rosaroten Lokum-Würfelchen; in historischen Hamams sitzen die Gäste wie Schafe herum – mit weißem "Pelz" aus Seifenschaum.

Ja, selbst die "Fischgräten", auf die Herr Güreli soeben zeigt, sind flauschig weich, so wie es sich für einen anatolischen Teppich gehört. Sie finden sich im überdachten Großen Basar, dem aus Kuppeln und verwischten Halbschatten komponierten Kapali Çarsi, und erinnern ein wenig an jene Strichlisten, die Eingekerkerte in feuchte Gefängniswände ritzen – zumindest im Cartoon.

Die Familie des Endvierzigers Memet Güreli handelt in der vierten Generation mit Teppichen im legendären Großen Basar. Das allein wäre Unterlage genug. Doch mit dem eigenem Teppich-Label "dhoku" will er sich gerade selbst übertreffen. Es steht für modern interpretierte Kelims von türkischen Designern. Entsprechend tiefgründig kommt auch das vermeintliche Fischgrätmotiv daher – bildet es doch in Wahrheit das umliegende Wegelabyrinth als flauschige Skizze ab. Handgewoben natürlich, und in Naturfarben, was Herr Güreli nicht eigens hätte erwähnen müssen. Interessanter ist das kleine, orange-schwarze Logo, das man im Halbdämmer leicht übersieht. Es verweist auf Istanbuls Design Biennale, die erste, die die Bosporus-Metropole vor wenigen Wochen erlebte.

Spaziert man von der Altstadt über die Galata-Brücke und schließlich an Karaköys Eisenwarenläden vorbei, wird allzu schnell klar: Lifestylemetropole ist Istanbul schon seit längerem. Wer die Szenelokale, Boutiquen und Designerhotels der Trendviertel Pera, Nisantasi oder Cihangir abklappert, findet dazu Anschauungsmaterial genug.

Griechische Schule für Gestaltung

Doch soeben öffnen sich weitere Perspektiven für diese vielschichtige Stadt: Die neoklassizistische Griechische Galata-Schule etwa, die viel zu lange leer stand und eine der beiden Großausstellungen der Designschau beherbergte, will sich keineswegs mit künstlich aufgebauschtem Schnickschnack begnügen. Istanbul hat sich Besseres verdient, etwa Designwochen mit einem seriösen Anliegen. Es lautet: Widerstand. Gegen die Baumafia, die Istanbul seit längerem im Würgegriff hat, und gegen die Penetranz, mit der Business-Parks und Shopping-Malls alte Stadtviertel überfahren.

Blickt man vom Sapphire Observation Deck – also von der mit 236 Metern höchsten Aussichtsplattform der Türkei – im Finanzviertel Levent oberhalb von Ortaköy herab, bekommt man ein ungefähres Greater-Istanbul-Gefühl; aber eben auch ein Feeling für Perspektiven, die sich hier überlagern. Dominobauten marschieren da auf, anderes schwindet hingegen rapid: Das alte Roma-Viertel Sulukule am Rande der theodosianischen Stadtmauer hat längst antiseptischen Wohnstraßen im "ottomanischen Stil" Platz gemacht. Die Bewohner des historischen Tarlabasi-Viertels hinter Beyoglu kämpfen dagegen noch um vertraute Gässchen. Dabei ist Tarlabasi bloß das bekannteste von vielen Grätzeln, in denen undurchsichtige Immobiliendeals den Menschen das Dach über dem Kopf rauben und Istanbul ein Stück Seele.

Die Eckdaten sind spektakulär: Istanbul hat einen Bevölkerungszuwachs hingelegt, den – vielleicht mit Ausnahme Moskaus – keine zweite europäische Stadt zu verkraften hatte. Geschätzte fünfzehn Millionen Menschen leben hier. Und Istanbul ist eine Stadt in rapidem Wandel, den die hügelige Topografie und das amphibische Wesen lange Zeit hintanhielt. Davon zeugen nicht zuletzt die Infrastrukturprojekte, die dieser Tage über die Bühne gehen: Eine dritte Bosporus-Brücke und der neue Megaflughafen sind längst in Planung. Schon jetzt reckt sich das blaue Skelett der neuen Metro-Brücke zur Hälfte über das Goldene Horn. Und der bereits fertiggestellte Bosporus-Tunnel wird in wenigen Monaten in Betrieb gehen. Noch nie wurde eine Tunnelröhre tiefer im Meeresboden verlegt. Um den Verlauf nicht zu steil zu gestalten, musste die Röhre auch unter der Hagia Sophia und der Blauen Moschee hindurch. Dass bei den Bauarbeiten der verschollen geglaubte byzantinische Theodosius-Hafen freigelegt wurde und neolithische Funde die Stadt nun noch einmal 2000 Jahre älter machen – geschenkt.

Wer die ausgetreten Pfade verlässt, das goldene Schimmern der großen Istanbuler Silhouette ein wenig zur Seite rückt, der versteht schnell: Stadt ist Gewebe. Doch eine Stadt wie Istanbul ist eine komplette Garderobe: mit byzantinischen und ottomanischen Lagen, mit französischem Überrock und vielen abgetragenen Stellen. Aber auf jeden Fall so gut ausgebeult wie die Ellenbögen eines eingetragenen Sakkos. Mehr dazu verrät der Sprung vom Gymnasium hinüber zur zweiten Design-Biennale-Location, dem "Istanbul Modern", wie das vor acht Jahren eröffnete Museum Moderner Kunst heißt. Auch hier flankieren Abbruchhäuser den Weg, rostige Jugendstilbalkone nehmen den morbiden Charme des angrenzenden Vintage-Viertels Cukurcuma vorweg. Hinter der Kiliç-Ali-Pasa-Moschee schirmen Platanen jene Cafés ab, in denen junge Istanbuler an der Sonntagsshisha nuckeln – während das aufgeheizte Wellblech der alten Lagerhäuser Rückendeckung gibt.

Özden Demir und Sinem Duran haben diesen behaglichen Platz mit der Trucker-Perspektive getauscht und tragen nun zur Schau Musibet im angrenzenden Museumsbau bei: Tagtäglich verlassen hunderte Lkws Istanbul mit dem Schutt zahlloser Abrissprojekte und mit den Spuren vergangener Leben. Die beiden Künstler füllen dieses Istanbul in kleine Sackerln, hängen es wie Gesteinsproben an die Museumswand. Schaut man genau, kann man uralte Mosaiksteinchen entdecken und Scherben von Tafelgeschirr. Musibet heißt auf Deutsch übrigens Unglück.

Suche nach schillerndem Flickwerk

Die Auseinandersetzung mit dem heißen Eisen Gentrifizierung ist längst Chefsache. Sie treibt Künstler, Autoren und Filmemacher um, Architekten und Stadtplaner sowieso. Entsprechend unterschiedlich fallen die Ansätze aus: Während das Wiener Museum für angewandte Kunst mit der Ausstellung Zeichen, gefangen im Wunder ab nächster Woche nach verbindenden Elementen in Istanbuls zeitgenössischer Kunstproduktion fahndet, zeigen Textildesigner vor Ort die Metropole als schillerndes Flickwerk – und die Bosporus-Ufer als offen klaffenden Reißverschluss. Das supranationale "Atelier Istanbul" hat zudem einen Masterplan 2023 entwickelt, der die Ausdehnung der Stadt entlang des Marmara-Meers empfiehlt – und die dringende Entlastung der aus ottomanischer Zeit stammenden Trinkwasserreservoirs, die längst ihr Limit erreicht haben.

In unruhiges Wasser blickt aber auch Orhan Pamuk, der quintessenzielle Istanbuler Autor – und macht dabei für das Biennale-Magazin New City Reader eine besondere Fährte aus. Eine, die vor dreißig Jahren, als Pamuk noch Zeitungsreporter war, die ganze Stadt in Atem hielt und die er später im Roman The Black Book aufgriff. Sie folgt der Spur eines schwarzen Cadillacs, einem von nur drei Exemplaren, die damals durch Beyoglus Straßen rollten. Die beiden anderen gehörten Dagdelen, der sein Vermögen mit dem Bau von Autobahnen gemacht hatte, und Maruf, dem Istanbuler Tabakkönig.

Den dritten Cadillac steuerte ein lokaler Gangster – zumindest so lange, bis er ihn als Höhepunkt einer filmreifen Verfolgungsjagd mit der Polizei bei Akinti Beach in den Bosporus gehechtet hatte, grundsolide zugekifft, wie es damals hieß, und mit einer Geliebten am Nebensitz. Der Cadillac wurde nie gefunden, irgendwann wuchsen Algen über die ganze Sache.

Doch jetzt, wo das Schwarze Meer wärmer, das Mittelmeer kälter wird und alte Bosporus-Fischer von neuen Untiefen erzählen, taucht der Gangster-Cadillac wieder auf; gemeinsam mit chinesischem Porzellan, mit pistazienfarbenem Bleikristall und mit alten, osmanischen Krummdolchen. Zumindest in Pamuks Fantasie, wenn er im Rahmen des Biennale-Essays über Istanbul als fiktive Stadt nachdenkt. All das liegt im Bodenschlick einer Stadt, aus dem Pamuk ein ewiges Istanbul heraufbeschwört – verdichtet aus Trümmern und dem Echo der Jahrtausende. Mit urbaner Planung hat der Autor freilich nichts am Hut. Aber seine Fiktion ist in Vierteln wie Beyoglu so echt wie die künstlerische Perspektive auf diese weiterhin wachsende Stadt. (Robert Haidinger, DER STANDARD, Rondo, 18.1.2013)