Tübingen - Aufmerksam sein zu können ist keine automatische Gabe, sondern eine aktive Leistung des Gehirns. Das wird deutlich, wenn Schlaganfälle kritische Orte des Gehirns zerstören und die Betroffenen ihre Umgebung nicht mehr aufmerksam wahrnehmen können. Doch welche Orte sind das? Wissenschaftlern der Neurologischen Universitätsklinik Tübingen und vom Hertie Institut für klinische Hirnforschung (HIH) haben nun gemeinsam Forschern aus den USA in einer Studie Schlaganfallpatienten untersucht, und jenes Hirnnetzwerk eruiert, das Menschen die Fähigkeit zur Aufmerksamkeit verleiht.

Dazu benutzten die Experten eine neue Methode, die eigentlich für das selbständige Lernen von Robotern und anderen Maschinen entwickelt wurde. Solche Systeme ermöglichen es, dass Roboter nicht einfach etwas "auswendig lernen", sondern selbstständig Gesetzmäßigkeiten "erkennen". Über diese intelligenten Mustererkennungsmethoden werteten die Neurowissenschaftler Computertomographie- und Magnetresonanztomographie-Bilder von Gehirnen ihrer Patienten aus und fanden so heraus, welche Kombination geschädigter Hirnorte zu einem Ausfall der Aufmerksamkeit führt.

Dieses Wissen soll nun genutzt werden, um den individuellen Verlauf von Aufmerksamkeitsstörungen bei Schlaganfallpatienten vorherzusagen, damit Patienten bereits frühzeitig die für sie optimale Therapie erhalten können.

Lernenden Roboter bei der Suche erfolgreich

Hans-Otto Karnath vom Zentrum für Neurologie des Universitätsklinikums Tübingen hat zusammen mit seinen amerikanischen Kollegen von der Duke University und der University of South Carolina untersucht, ob mit Hilfe von Methoden, die eigentlich für das selbständige Lernen von Robotern und anderen Maschinen entwickelt wurden, auch neue Erkenntnisse für das Verständnis von Hirnfunktionen beim Menschen gewonnen werden können. Sie fütterten ein Computernetzwerk mit den CT- und MRT-Bildern einer großen Anzahl von Patienten, die einen Schlaganfall erlitten hatten. 

Die von den Wissenschaftlern eingesetzten Verfahren suchten nun danach, ob sich in dieser großen und unterschiedlichen Ansammlung von individuellen Hirnschädigungen ein typisches Muster "erkennen" lässt, das immer dann vorliegt, wenn es zu einer Störung der Aufmerksamkeit kommt. Wonach dabei gesucht werden sollte, gaben die Forscher den Maschinen nicht vor. Statt dessen sollten sie durch die Kombination sämtlicher Varianten "selbständig" beurteilten, ob etwas Regelhaftes zu "erkennen" ist.

In der rechten Gehirnhälfte wurden die Forscher fündig und konnten dort das Hirnnetzwerk sichtbar machen, das Menschen die Fähigkeit zur Aufmerksamkeit verleiht. Dieses Wissen wollen die Neurowissenschaftler nun dazu nutzen, um individuelle Verläufe von Aufmerksamkeitsstörungen vorherzusagen und so für jeden Patienten frühzeitig die für ihn richtige Therapie ausfindig machen zu können. (red, derStandard.at, 16.1.2013)