Martin, Chanel, Efe, Davina und Vivian (v. li.) besuchen das letzte Kindergartenjahr.

Foto: derStandard.at/Winkler-Hermaden

Einmal pro Woche lernt Renate Guldan mit den Kindern.

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Guldan setzt auf Montessori-Materialien.

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Ein Koffer voller Lernunterlagen.

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Chanel - ihre Eltern kommen aus China - will Bingo spielen.

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"Wo ist Renate?", fragt der fünfjährige Efe und zappelt von einem Bein auf das andere. An einem Tag pro Woche ist im Kindergarten in der Embelgasse alles anders als sonst, denn am Donnerstag kommt Renate Guldan zu Besuch. Die Kinder warten schon ungeduldig vor der Tür. Da betritt die 53-jährige Pädagogin endlich das enge Vorzimmer. Mit sich schleppt sie einen Koffer voll Montessori-Materialien, die beim Erlernen der Sprache helfen sollen. Im Kindergarten der St.-Nikolaus-Stiftung in Wien-Margareten werden 25 Kinder aus sieben Nationen im Alter von drei bis sechs Jahren betreut. Kein einziges von ihnen hat Deutsch als Muttersprache.

Soll die Sprachförderung im Kindergarten ausgebaut werden? Oder ist es besser, Vorschulklassen einzurichten? An der Frage, wie die Kinder beim Erlernen der Sprache gefördert werden sollen, scheiden sich die Geister. Integrationsstaatsekretär Sebastian Kurz (ÖVP) fordert Vorschulklassen, Anfang Jänner sprang auch Unterrichtsministerin Claudia Schmied (SPÖ) auf den Zug auf. Bisher hatte die SPÖ diese Maßnahme mit dem Argument, keine Ghettoklassen bilden zu wollen, stets zurückgewiesen.

Steine und Plastiktiere

Sprachlehrerin Guldan packt die Utensilien aus, legt Spielkarten, Filzteppiche, Steine und bunte Plastiktiere auf den Tisch. Fünf Kinder unterrichtet die Sprachassistentin, nämlich jene, die ab Herbst in die Schule gehen sollen und noch Sprachdefizite aufweisen. In der alltäglichen Kommunikation haben sie keine Probleme mehr, geht es aber um grammatikalische Feinheiten, stehen die Kinder an. Die Pädagogin bittet die ersten drei Kinder zu sich in den kleineren, ruhigeren Raum des Kindergartens. Efe kommt aus der Türkei, Davina aus Nigeria, Chanel aus China. Die Kinder sind zwischen fünf und sechs Jahre alt.

Zur Volksschule zugelassen werden sie nur, wenn sie ausreichend Deutsch sprechen. Der Wiener Stadtschulrat baut die seit 2008 existierende Maßnahme heuer weiter aus, was zu heftiger Kritik von Sprachwissenschaftlern führte. Die Professoren Rudolf De Cillia und Hans-Jürgen Krumm von der Universität Wien warnten vor Separation und sehen in eigenen Vorschulklassen für Migrantenkinder eine Diskriminierung.

Davinas schwarze Rastazöpfe wippen mit ihren ruckartigen Bewegungen mit. Der Förderunterricht gehört für sie und die anderen Kinder hier längst fix zur Kindergartenwoche dazu. Sie blickt konzentiert auf den Stapel Karten vor sich. Sprachassistentin Guldan zeigt auf eine Karte und fragt: "Was siehst du hier?" Davina antwortet: "Eine Katze!" Guldan: "Richtig. Jetzt denk dir irgendeine Zahl aus und sag mir die Mehrzahl von Katze." Davina überlegt nur kurz: "Dreihundertundsechzig Katzen", platzt es aus ihr heraus.

Ekmek heißt Brot

Nun ist Chanel an der Reihe. Sie hat eine Karte vor sich liegen, auf der ein Brot abgebildet ist. Beim Bilden der Mehrzahl tut sie sich noch schwer. "Bröte?", fragt das Mädchen vorsichtig. "Es heißt Brote", korrigiert Guldan. "Brote", wiederholt Chanel. Plötzlich wird Guldan zur Schülerin. Sie fragt Chanel, was Brot auf Chinesisch heiße: "Miànbāo", sagt Chanel wie aus der Pistole geschossen. "Und auf Türkisch?" "Ekmek", auch Efe weiß es sofort.

Guldan erklärt, dass es für die Kinder wichtig sei, den Bezug zur Muttersprache herzustellen. Durch die Muttersprache werde die Sprachbasis gelegt, alles weitere gehe dann einfacher. "Muttersprache ist die Sprache des Herzens", sagt sie. Zahlreiche Studien geben Guldan recht.

Ein Drittel aller Kinder wird gefördert

Guldans Sprachunterricht im Kindergarten in der Embelgasse wird von der MA 10 finanziert. Sie ist eine von rund 100 Förderassistentinnen, die in Wiens Kindergärten unterrichten. Bei einem Drittel aller Kinder im Alter von viereinhalb bis fünfeinhalb Jahren wurde im vergangenen Jahr ein erhöhter Sprachförderbedarf festgestellt. Insgesamt besuchten in diesem Zeitraum 15.000 Kinder das letzte Kindergartenjahr. Das bedeutet, auf eine Sprachassistentin kommen rund 50 Kinder.

Die Sprachassistentinnen werden nach Bedarf in den Kindergärten eingesetzt und unterstützen die Kinder mit mangelnden Sprachkenntnissen vor Ort. Darunter auch Kinder mit deutscher Muttersprache. Die Pädagoginnen kümmern sich nicht nur um sprachliche Fähigkeiten, sondern auch um die motorische, soziale und emotionale Entwicklung der Kinder.

Hase mit A

"Haaaaase", spricht Efe Pädagogin Guldan nach. In der Embelgasse geht es weiter mit A-Übungen. Vor den Kindern liegen Tafeln, darauf abgebildet sind Gegenstände, die ein A enthalten. Die Kinder sollen erkennen, ob sich das A am Anfang, am Ende oder in der Mitte des Wortes befindet. Efe weiß die Antwort nicht. Renate beruhigt: "Das ist eine schwere Übung." Efe hat während des Unterrichts schon mehrmals erwähnt, dass er müde ist. Nach nicht ganz einer Stunde ist die erste Gruppe fertig, draußen wartet bereits die Jause.

Für ein zweites Kindergartenjahr

"Wir würden uns wünschen, dass Frau Guldan jeden Tag da ist." Susanna Haas, die pädagogische Leiterin der St.-Nikolaus-Stiftung, ist froh über Guldans wöchentliche Deutschstunden. Sie ist überzeugt, dass man bei der Sprachförderung im Kindergarten ansetzen muss. "Das System funktioniert gut, fein wäre es, wenn die Sprachförderung früher passiert." Denn je jünger die Kinder sind, desto höher sei die Bildungschance. "Man kann keine Wunder bewirken", sagt sie. Aber die Sprachmelodie würden die Kinder auf jeden Fall verinnerlichen. Einem zweiten verpflichtenden Kindergartenjahr steht Haas offen gegenüber.

Der für die Kindergärten zuständige Wiener Stadtrat Christian Oxonitsch (SPÖ) spricht sich jedoch dagegen aus. Er plädiert für mehr Ressourcen für die Frühförderung von Kindern und sieht das als zielführender als ein zweites verpflichtendes Kindergartenjahr. Die Wahlfreiheit der Eltern stehe im Vordergrund.

Schuleinschreibung bis 25. Jänner

Die älteren Kinder in der Embelgasse werden Reformen der Sprachförderung im Kindergarten nicht mehr treffen. Noch bis 25. Jänner haben ihre Eltern Zeit, sie für die Volksschule im Herbst anzumelden. Die Entscheidung, ob sie in die Volksschule kommen oder noch ein Jahr Vorschule absolvieren müssen, liegt in der Hand der Direktoren. Sie müssen bei der Schuleinschreibung feststellen, ob die Kinder in der Lage sind, dem Unterricht zu folgen. Entscheiden sich die Schulleiter gegen eine Aufnahme, folgt als Alternative für Kinder mit Sprachdefiziten die Vorschule - und damit die Trennung von jenen Kindern, die Deutsch bereits beherrschen. Vielleicht sind das ja Efe, Chanel und Davina. (Rosa Winkler-Hermaden, derStandard.at, 24.1.2013)