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Das immense Hafengebiet ist Zentrum der Kulturhauptstadt Marseille: Stararchitekten aus aller Welt haben den ehemaligen Docks ein neues Gesicht verliehen.

Foto: REUTERS/Jean-Paul Pelissier

"Soll das ein Scherz sein?" So reagierten viele Bewohner von Marseille, als ihre Stadt - neben dem slowakischen Kosice - den Zuschlag für die europäische Kulturhauptstadt 2013 erhielt. Die Marseiller pflegen ihren Lokalstolz, sie lieben ihre Stadt, aber sie sind auch genug selbstironisch, wenn nicht ein wenig "fada", verrückt, wie sie selber sagen, um gegenüber internationalen Auszeichnungen skeptisch zu sein.

Gewiss, die Stadt hat ihre Vorzüge, Arthur Schopenhauer nannte Marseille eine der schönsten Städte, Erika Mann eine der abenteuerlichsten. Zugleich ist Marseille chaotisch, bettelarm, übel beleumundet. Die Hälfte der Einwohner zahlt keine Einkommenssteuer; ein Fünftel lebt in akuter Armut, ebenso viele dürften arbeitslos sein. Gangsterbanden wie die "Brise de mer" (Meeresbrise) lassen sogar die Marseiller Romantrilogie von Jean-Claude Izzo als Kinderbuch erscheinen. Müllabfuhr- und Dockerstreiks sind so häufig wie in Neapel.

Die Mafia ist zwar weniger eingenistet, doch die Banlieue-Viertel im Norden sind noch furchtbarer: Hier dealen sogar die Gendarmen, und die Drogenbosse erledigen einander nach sogenannter Barbecue-Manier (im Auto erschossen und verbrannt), weshalb die Quartierbürgermeisterin Samia Ghali gar einen Armeeeinsatz forderte.

Und so etwas soll Kulturhauptstadt sein? Eine Stadt, die zu viel mit sich kämpft, um noch Zeit für Kunst zu haben, von der schon Stendhal schrieb, in Marseille lese man keine Bücher?

Ja, doch, am Wochenende wird Bürgermeister Jean-Claude Gaudin mit filmreifem Provence- Akzent die Feiern von Marseille Provence 2013 eröffnen. Und feiern können sie, die 800.000 Einwohner dieses Schmelztiegels, wo jeder von irgendwoher kommt - Polen, Armenien, Italien, Algerien, Senegal, neuerdings auch China und Tunesien.

Der deutsche Vizedirektor von Marseille Provence 2013, Ulrich Fuchs, fühlte sich in diesem Völkergemisch "willkommener" als in Linz, der von ihm 2009 inszenierten Kulturhauptstadt. Die Einwanderung mache die Marseiller "authentisch, weil sie am eigenen Leib erfahren, was es heißt, in einer Stadt anzukommen", sagte er in einem Interview.

Völlig neues Gesicht

Als Kulisse wählte er das immense Hafengebiet, wo die Algerier mit der Fähre in ihre Heimat übersetzen. Die ehemaligen Docks haben ein völlig neues Gesicht erhalten, zusammenoperiert von Stararchitekten aus aller Welt, für den Pappenstiel von 680 Millionen Euro. Darunter ist das Mucem , das erste Museum für europäische und mediterrane Zivilisation.

Eine zeitgeschichtliche Ausstellung hatte es in Marseille zuvor gar nicht gegeben, denn die meisten Immigranten hätten ihre Vergangenheit auch mental hinter sich gelassen, erklärt Fuchs. Neu sind auch zwei Kulturzentren: Le Silo, ein einstiges Weizenlager, und die Villa Méditerranée, ein Begegnungsort über das Mittelmeer hinweg. Seine spektakuläre Form eines Sprungturms richtet sich ans andere, tausend Kilometer entfernte Ufer in Afrika.

"Marseille hatte schon immer das Zeug, zur Drehscheibe mediterraner Kultur zu werden", meint der ortsansässige Soziologe Laurent Mucchielli. "Jetzt ist die Stadt so weit." Entsprechend feierliche Worte werden bei der Einweihung des Marseiller Kulturjahres sicher auch Frankreichs Präsident François Hollande und EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso wählen.

Den Zuschlag zur Kulturhauptstadt hat die älteste, von kleinasiatischen Phokäern vor 2600 Jahren gegründete Stadt Frankreichs aber nicht nur wegen ihrer Funktion als mediterraner Melting Pot erhalten. Es ist auch die Belohnung für eine milliardenschwere Sanierung. Marseille war Ende des 20. Jahrhunderts in eine tiefe Krise geschlittert, unternimmt aber heute gewaltige Anstrengungen, den Anschluss an die globale Welt wieder herzustellen.

Flair in Gefahr

Wahrzeichen ist der von Zaha Hadid gebaute, 147 Meter hohe Sitz der CMA-CGM, der drittgrößten Reederei der Welt. Rundherum entstehen 35.000 Arbeitsplätze, 18.000 Wohnungen, 60 Hektar Grünfläche. Es ist das größte Stadterneuerungsgebiet Südeuropas, laut Fuchs "fast eine Veränderung, wie sie Berlin durch die Maueröffnung mitgemacht hat".

Wie immer richtet das etatistische Frankreich mit der großen Kelle an, wenn es die Dinge einmal in die Hand nimmt. Auf der Strecke bleibt ein wenig das unnachahmliche Flair der Stadt, insbesondere Le panier, das Maghrebinerviertel, das sich mitten im Stadtzentrum wie ein orientalischer Basar gehalten hatte.

Infolge der Maßnahmen wird es für die anwohnenden Griechen, Korsen und Algerier immer unerschwinglicher; sie ziehen mehr und mehr in die Nordquartiere, was die ethnische und soziale Segregation fördert. Nur den rechtsextremen Front National freuts. Er verhinderte auch, dass die neue Moschee Marseilles, die größte Frankreichs, in das Stadterneuerungsprogramm integriert wird.

Am Vieux port, dem alten Hafen, schuf Norman Foster mehr Fußgängerzonen, doch halten weniger Fischweiber als früher ihre Ware feil. Das Ganze wirkt etwas zu herausgeputzt, zu konzipiert für das schräge Marseille. Aber vielleicht gibt sich das bald in dieser widerspenstigen Stadt.   (Stefan Brändle aus Marseille, DER STANDARD, 11.1.2013)