Überall Entdeckungen: Emmanuelle Riva (li.) und Simone Signoret (re.) in " Adua und ihre Gefährtinnen" (1960) von Antonio Pietrangeli.

Foto: Filmmuseum

Wien - "Seid ihr Schwestern?", fragt der Herr Pfarrer die vier Frauen, die sich in Antonio Pietrangelis Film Adua und ihre Gefährtinnen anschicken, aus einer Bruchbude ein Gasthaus zu machen. Der arglose Geistliche kann nicht wissen, welcher Hintersinn seiner Frage im Lauf der Jahre noch zuwachsen würde. Denn tatsächlich ist diese von Simone Signoret angeführte Gruppe italienischer Frauen so etwas wie eine Schwesternschaft, allerdings im kämpferischen Sinn des Wortes und nicht im biologischen. Es sind ehemalige Prostituierte, die hier nach neuen Erwerbsmöglichkeiten suchen; sie haben eine Weile stolz als Liebesdienerinnen gearbeitet, aber sie wollen nicht als Zweihundert-Lire-Huren enden.

In diesem Wort "sorelle" steckt eine ganze Welt an Bezügen, wenn man nur die Filme heranzieht, die das Österreichische Filmmuseum in den kommenden Wochen in zwei Werkporträts zu Antonio Pietrangeli und Valerio Zurlini zeigt. Es handelt sich bei dieser Schau um einen Teil eines außerordentlich interessanten Langzeitprojekts. Was mit einem Überblick über den Neorealismus schon sehr dicht begann, führte in einer ersten, ebenso originellen wie überzeugenden Verzweigung zur italienischen Nachkriegskomödie, dann zum politischen Kino von Elio Petri und zu der nationalkinematografischen Reihe La Storia.

Nun wird das Vorhaben noch einmal detaillierter. Mit Valerio Zurlini und Antonio Pietrangeli rücken zwei Regisseure in den Blick, die zuvor schon am Rande aufgetaucht waren und von denen sich bei näherem Hinsehen erweist, dass sie im großen Ganzen der italienischen Filmgeschichte eigene Kontinente bilden. Zurlini auch mit seinerzeitigen Prestigeproduktionen wie der Literaturverfilmung Die Tatarenwüste (mit beeindruckenden Landschaften), Pietrangeli mit präzisen Sozialstudien wie dem großartigen La Visita (1963). Darin gibt eine Mittdreißigerin aus der Po-Ebene eine Kontaktanzeige auf und lädt einen schon etwas älteren Buchhändler aus Rom, der ihr ein keckes Strandfoto von sich geschickt hatte, zum Besuch ein.

Freiheit als Unglück

Daraus ergeben sich die Geschehnisse eines Tages und einer Nacht. Zwei Individuen, von der Modernisierung Italiens aus den traditionellen Zusammenhängen geworfen, tasten einander ab. Pina (Sandra Milo ist eine der großen Entdeckungen dieser Schau) ist klug, taktvoll, großzügig; Adolfo trinkt zu viel, will der Frau sofort an die Wäsche und macht nebenbei der Nichte schöne Augen. Trotzdem bleibt bis zum Ende offen, ob sich hier das traditionelle Modell noch einmal durchsetzt oder ob die offenere Gesellschaftsform, deren Freiheit sie tendenziell als Unglück erleben, hier ersten Kredit bekommt.

Schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatten die Zeitläufte das familiäre Band ganz faserig gemacht, wie aus Zurlinis Cronaca familiare hervorgeht, einem seltsam introvertierten Epos des Niedergangs alter Elite. Sie hinterlässt einen grüblerischen Intellektuellen Enrico (Marcello Mastroianni) und dessen Bruder Lorenzo, der immer den beigen Mantel zu Enricos unfehlbar schwarzem trägt. Doch es ist Lorenzo, der hier allmählich dem Siechtum anheimfällt, während im methodischen blinden Fleck dieser bewusst weltarmen Familienchronik die Geschichte ihren fatalen Gang nimmt.

Zurlini und Pietrangeli waren bisher auch im blinden Fleck der Filmgeschichte. Daraus werden sie nun hervorgeholt. Wo man in dieser Filmreihe auch hinschaut, man wird bedeutende Entdeckungen machen. (Bert Rebhandl, DER STANDARD, 10.1.2013)