Die Küste am ionischen Meer zwischen Sibari und Crotone, die ich über Weihnachten besucht habe, ist eine der großen Kulturlandschaften Europas, die alte Heimat von Pythagoras und eine Schatzkiste eindrucksvoller Architektur vom Altertum bis ins 19. Jahrhundert, eingebettet zwischen Meer und schneebedeckten Bergen.

Aber wirtschaftlich und auch gesellschaftlich ist dies einer der rückständigsten Winkel Europas. Kalabrien ist die ärmste Region Italiens;  es besitzt keine nennenswerte Industrie, das Pro-Kopf-Einkommen beträgt gerade zwei Drittel des EU-Durchschnitts, und die Ostküste hat anders als die Gegend rund um Lamenzia Terme auch nur wenig Tourismus vorzuweisen.

Hier sei nicht einmal die berüchtigte kalabrische Mafia, die 'Ndrangheta, besonders präsent, sagen die Einheimischen; es gibt einfach zu wenig zu holen.  

Ja, es gibt viel Landwirtschaft, vor allem Olivenbäume, die vielfach viel zu eng gepflanzt sind - ein Zeichen für eine fehlgeleitete Subventionspolitik. Aber die Erntearbeit wird in einer Region mit katastrophal hoher Arbeitslosigkeit von rumänischen Saisonarbeitern erledigt - meist für einen Hungerlohn.

Die lokale Bevölkerung lebt - mit einigen wunderbaren Ausnahmen - von Sozialhilfe und Pensionen. Und wer mehrere solcher Zahlungen für sich und seine Familie gewinnen kann, der lebt etwas besser.

Ex-Premier Silvio Berlusconi ist hier noch immer sehr beliebt, denn er hat den Menschen versprochen, dass alles so bleibt, wie es ist. Und mehr wollen sie nicht. Die Reformbestrebungen von Mario Monti sind ihnen ein Gräuel.

Eine Rückwanderer aus Deutschland haben sich an den Ortsrändern schöne Einfamilienhäuser gebaut. Die alten Häuser in den Bergdörfern verfallen, und an der Küste werden hässliche Kleinklötze aus Beton hochgezogen. Die Jungen ziehen weiterhin weg oder stellen sich auf ein Leben in Arbeitslosigkeit und Abhängigkeit ein.

Kalabriens Wirtschaft ist weniger Opfer des Euro als der italienischen Vereinigung von 1861, als dieser feudale Landstrich mit dem sich rasch industrialisierenden Norden ökonomisch und monetär zusammengeschlossen wurde. Seither hängt der Süden am Tropf, und ganz besonders seit dem Ausbau des Wohlfahrtsstaates nach dem Zweiten Weltkrieg.

Manches dürfte sich seit der Euro-Einführung 1999 noch weiter verschlechtert haben, denn seither kann Italien insgesamt nicht mehr abwerten. Aber schon davor war die eigentlich schwache italienische Lira für den strukturschwachen Süden zu stark.

An Transfers hat es hier seit Jahrzehnten nicht gefehlt, ebenso an ehrgeizigen Projekten zur Wirtschaftsentwicklung. Aber gebracht hat es wenig. Die Gelder für den Straßenbau versickern in dunklen Kanälen, und die vielen Subventionen bremsen das Unternehmertum.

Würde Kalabrien heute besser dastehen, wenn Giuseppe Garibaldi 1860 nicht in Sizilien gelandet und die Vereinigung Italiens erkämpft hat? In vieler Hinsicht - nicht nur geographisch, auch beim Bildungsniveau und der Stellung von Frauen - ist Kalabrien näher zu Nordafrika als zu Mitteleuropa.  Aber politische Unabhängigkeit ist auch kein sicheres Erfolgsrezept, sonst müsste es den  Maghrebstaaten viel besser gehen.

Die Wahrheit ist, dass es für strukturschwache Regionen keine einfachen Wege in eine bessere Zukunft gibt. Weder eine gemeinsame Währung noch großzügige Transferzahlungen von reicheren Nachbarn schaffen Arbeitsplätze und Wohlstand.

Die Ungleichheit ist auch Nationalstaaten eine Realität. Die Hoffnung, dass es der EU oder der Eurozone gelingen wird, die Schere zwischen arm und reich Nord und Süd, oder auch West und Ost zu schließen, bleibt wohl eine Illusion. (Eric Frey, derStandard.at, 9.1.2013)