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Seit der Vergewaltigung in Neu-Delhi im Dezember protestieren Menschen in Indien täglich gegen Gewalt gegen Frauen. Am Wochenende erhob der Freund des Opfers schwere Vorwürfe gegen die Polizei.

Foto: AP/Qadri

Sie spricht so stockend, dass man sie manchmal kaum versteht. Den Blick hat sie starr auf den grauen Steinboden gesenkt, als müsse sie sich schämen für das, was geschehen ist. In jener Nacht vor sieben Monaten, als ihr Mann Nachtschicht hatte und sie alleine zu Hause war.

"Absolute Anonymität" war die Bedingung für das Treffen. Also nennen wir sie Pooja. Aber sie könnte auch Lakshmi heißen oder Fatima oder Preeti. Sie steht für das Heer an namenlosen Vergewaltigungsopfern, die von der Gesellschaft ausgegrenzt, von Polizisten bedroht wurden und sich von der Justiz verraten fühlen.

Pooja ist 27 Jahre alt, eine hübsche, schmale Frau mit einem noch kindlichen, blassen Gesicht. Auf der Stirn trägt sie ein rotes Bindi, der Schmuck verheirateter Hindu-Frauen. Pooja stammt aus einem Dorf am Rande Delhis, wo noch immer mittelalterliche Regeln herrschen.

Bereits mit zwölf wird sie verheiratet, mit 17 bekommt sie einen Sohn, zwei Jahre später eine Tochter. Sie hat nie schreiben und lesen gelernt. Und doch ist sie, für ihre Verhältnisse, eine emanzipierte Frau. Sie wird Unternehmerin und eröffnet einen kleinen Schönheitssalon im ersten Stock ihres Hauses. Sie scherzt mit ihren Kundinnen, wenn sie ihnen die Augenbrauen zupft, ihnen Bleichmasken auflegt, die die Haut weißer machen sollen, oder ihnen die Nägel lackiert. Man tratscht über die Nachbarn, spottet über die Männer. Es ist ein bescheidenes Leben, aber doch ein relativ gutes.

Mit der Kamera verfolgt

Aber das war früher, vor jener Nacht im Juni. Bevor sie fliehen musste, weil sie es wagte, gegen ihren Vergewaltiger aufzubegehren. Im Haus gegenüber von Poojas Familie wohnt ein Mann, der einen Süßwarenladen betreibt. Er beginnt, Pooja zu fotografieren. Es ist ihr unangenehm, wie er sie mit der Kamera verfolgt, doch was soll sie tun?

Ihr Mann arbeitet in einer Fabrik, oft auch nachts. Wie in vielen Häusern Indiens ist die Toilette außerhalb der Wohnung. Poojas Mann hat Nachtschicht, als der Nachbar ihr dort auflauert. "Er hat mich gefangen und vergewaltigt", sagt sie mit steinerner Miene.

Sie nimmt ihren Mut zusammen und geht zur Polizei. Die lädt den Vergewaltiger vor, der mit seiner Mutter als Beistand kommt. Pooja sieht, wie die beiden mit dem Polizisten tuscheln, sie meint, zu sehen, wie sie dem Polizisten Geld zustecken. Wenige Stunden später taucht der Polizist bei ihr zu Hause auf und verlangt, dass sie die Anzeige zurückzieht.

"Er hat gedroht, dass er dem ganze Dorf erzählt, dass ich eine schlechte Frau bin, die mit anderen Männern schläft", sagt sie. Pooja zieht die Anzeige zurück. Auch ihrem Mann verschweigt sie, was passiert ist.

Doch es wird immer schlimmer. Die Polizei auf seiner Seite wissend, wird der Nachbar nun erst richtig rabiat. Über Wochen stellt er Pooja nach. Die ständige Angst zermürbt sie, sie traut sich kaum noch zur Toilette. Als der Nachbar versucht, ihre achtjährige Tochter zu vergewaltigen, geht sie zu dessen Ehefrau. Doch die beginnt, sie mitten im Dorf zu ohrfeigen.

Erst da erfährt ihr Mann von der Geschichte. Pooja hat Glück: Er hält zu ihr und geht mit ihr zur Polizei, um den Mann anzuzeigen. "Aber die Polizei hat uns weggejagt", sagt Pooja. "Sie haben gesagt: Wenn ihr nicht abhaut, sperren wir deinen Ehemann wegen Vergewaltigung in den Knast."

Sie haben gegen das Gesetz des Schweigens verstoßen, und das Dorf rächt sich. Nachbarn beschimpfen Pooja als Hure. Man droht, ihre Kinder zu entführen. In Angst verlässt die Familie das Dorf und zieht nach Delhi in die Anonymität der Großstadt. Pooja hockt nun den ganzen Tag zu Hause. Wie tot fühle sie sich. Was ist aus ihrem Kosmetikladen geworden? Sie beginnt zu weinen.

Polizei verteidigt sich

Am Samstag begann der Prozess gegen jene Männer, die eine 23-jährige Studentin in einem Bus in Neu-Delhi brutal vergewaltigt haben sollen. Die indische Polizei wies am Wochenende Vorwürfe zurück, sie habe zu langsam auf die Tat reagiert. Bereits nach vier Minuten sei die erste Streife bei den Opfern gewesen, hieß es.

Der Freund des Opfers hatte den Beamten in einem Fernsehinterview vorgeworfen, erst nach 45 Minuten gekommen zu sein und auch dann mehr als eine Stunde gebraucht zu haben, um die verletzte Frau in ein Krankenhaus zu bringen. Vorbeikommende Passanten sollen sich zudem geweigert haben, dem Paar zu helfen. (Christine Möllhoff aus Neu-Delhi, DER STANDARD, 7.1.2013)