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Was soll der Staat, was darf das Individuum?

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Marcus Franz: "Verwahrloste Wohlstandsopfer".

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Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, warum in unseren Zeiten des noch nie da gewesenen Wohlstands und des jahrzehntelangen Friedens so viel strukturelle Verdrossenheit in der Gesellschaft herrscht? Und warum die Gattung der "Wutbürger" entstanden ist?

Landläufig wird als Ursache dieser Phänomene die Degeneration der politischen Kaste genannt. Doch das alleine kann es nicht sein, denn Politiker waren zu allen Zeiten anfällig für Degeneration und Bürgerferne. Ebenso waren alle historischen Staatsgebilde und deren Protagonisten zumindest für Teile der Gesellschaft immer Gegenstand von Kritik und Auslöser von Missmut und Wut. Die Kausalität der gegenwärtigen und neuartigen Verdrossenheit muss daher ihre Wurzeln auch noch woanders haben. Meine These lautet: Der allgemeine Missmut hat etwas mit der Erosion des gesellschaftlichen Ethos und mit einem zunehmend verspürten Verlust von Verantwortungs- und Pflichtbewusstseins zu tun.

Politiker bilden da nur die Projektionsfläche für die Frustration des Publikums, weil sie aufgrund ihrer Exponiertheit einfach dafür " prädestiniert" sind: Bei ihnen fällt der Verlust von Verantwortungsgefühl, Anstand und Pflichtbewusstsein früher auf und krasser ins Gewicht als beim sogenannten Durchschnittsbürger. Zu beobachten ist dieser zunehmende Mangel aber überall. Und das macht diejenigen, die diese Tugenden noch nicht gänzlich verloren haben, verdrossen.

Fortschreitender Prozess ...

Konzentrieren wir uns auf die Pflicht: Diese ist bei vielen Leuten schlichtweg in Verruf geraten. Waren Pflichten einst noch edel, anspruchsvoll und hehr, so sind sie heute zum irgendwie zwar noch notwendigen, aber letztendlich doch lästigen Beiwerk des Alltags geworden.

Die Begriffe Pflicht und Verpflichtung sind zu Unwörtern mutiert, die kaum noch jemand schätzt, sondern als Störfaktoren staatlicher Verwöhn- und Wohlfühlprogramme wahrgenommen werden. Dementsprechend lösen auch verwandte Topoi wie Disziplin, Anstand, Leistungswille, Ehre und Ehrgeiz negative Konnotationen aus. Die Pflicht und ihre "Verwandten" auf der einen Seite und die wachsenden Sehnsüchte nach einer allumfassenden, sozialstaatlich garantierten Wellness vertragen sich ganz einfach nicht.

Pflichten werden als unangenehm und freiheitseinschränkend erlebt, für viele stellen sie nachgerade eine Zumutung dar. Pflichtbewusstsein wird folgerichtig als altertümliche Tugend wahrgenommen, und wer seine Pflichten trotzdem brav erfüllt, gilt schnell als verstaubter und rückwärtsgewandter Zeitgenosse.

Das Pflichtgefühl ist zu einer verzichtbaren Charaktereigenschaft geworden, die nur noch von unbelehrbaren und belächelten Reaktionären als Wert wahrgenommen wird, prinzipiell im Widerspruch zum weithin verbreiteten Anspruchsdenken steht und folglich auf ein Mindestmaß zu reduzieren ist. Am besten wäre es, sie überhaupt abzuschaffen. Im Gegenzug soll eine dauernde und zunehmende Ermächtigung des Einzelnen sowie eine immer umfassendere Ausgestaltung der individuellen Rechte erfolgen. Jeder ist in diesem Sinne angehalten, seine Ansprüche genau zu kennen und diese auch bei jeder Gelegenheit einzufordern.

Der Einzelne darf tendenziell diese seine Rechte auch so lange nach seinem Gutdünken interpretieren, bis er irgendwann der Meinung ist, ihm stehe alles zu. Und wenn endlich jedem aus seiner subjektiven Sicht von vornherein alles zusteht, dann hat der Einzelne logischerweise keine Pflichten mehr, sondern ist von diesen definitiv befreit. Das wohlfahrtsstaatlich geprägte Individuum ist damit am Ziel seiner Träume angelangt. - Aber halt, wohin dann mit den zweifellos notwendigen Pflichten? Irgendjemand muss die anstehenden und abzuleistenden Pflichten doch erfüllen!

Die Lösung ist einfach: Die Pflichten werden dem Kollektiv respektive dem Staat überantwortet. Das erleichtert das Dasein des Individuums ungemein, denn der Staat besteht aus dem Blickwinkel der nun aus der Pflicht genommenen Einzelnen immer nur aus den anderen. Das Kollektiv ist anonym, es ist groß, und es soll sich gefälligst kümmern. Der Einzelne ist ohne Verantwortung, weil ja ohne Pflichten. Er ist höchstens das Opfer gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten und daher als Wiedergutmachung vom Staat zu versorgen und möglichst zu allem zu berechtigen.

... der Infantilisierung

Zu Ende gedacht bedeutet das jedoch, dass auf diese Weise zwangsläufig eine fortschreitende Infantilisierung des Individuums herbeigeführt wird. Wenn alle Bürger nur noch Rechte besitzen und keine Pflichten mehr kennen, dann gleichen die Individuen am Ende hilflosen Säuglingen, die nach der Mutterbrust greinen und nicht in der Lage sind, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.

Anders gesagt: Der Mensch wird nicht ständig mündiger in einer Gesellschaft, die sich ausschließlich um eine stetige Ausreifung der individuellen Rechtsportfolios bemüht. Der kollektivistische Rechts- und Sozialstaat, der nur die Rechte pflegt und die Pflichten vernachlässigt, erzeugt unzufriedene und verwahrloste Wohlstandsopfer, die jeglichen Lebenssinn und jede Lebenskompetenz verloren haben.

Damit schließt sich der Kreis, denn die Opferrolle ist jene, die von den Pflichtbekämpfern den Menschen als Grundeigenschaft zugedacht wird. Schuld am Elend des Einzelnen ist immer die Gesellschaft, die daher dessen Rechtssituation stetig verbessern muss. Und das hat über die Einrichtungen des Staates zu geschehen. Ein Perpetuum mobile ist damit eröffnet - siehe oben.

Am Ende dieses im Kern degenerativen und zerstörerischen Prozesses steht der in Friedrich Nietzsches Zarathustra prophetisch beschriebene "letzte Mensch". Dieser hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht, und auch die Gesundheit ist ihm wichtig. Ansonsten ist er passiv, abwartend und adynamisch.

Der letzte Mensch fühlt sich aber erstaunlich gut dabei: "Wir haben das Glück erfunden", sagen die letzten Menschen - und blinzeln. (Marcus Franz, DER STANDARD, 5./6.1.2013)