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Etwas so lange auf die lange Bank schieben, dass es Moos ansetzt ...

Foto: dpa/Ingo Wagner

Meine liebste Restpost kommt von der SVA und enthält eine Zahlungsaufforderung. Jeder selbstständig Erwerbstätige kennt diese Zuschriften, ein nicht unbeträchtlicher Teil fürchtet sie.

Ich bekenne ohne Umschweife: Ich prokrastiniere. Das bringt Spannung, Spiel und Spaß in meinen an Adrenalinspitzen armen Alltag. Kommen Sie mir nicht mit Abgabeterminen! Die verstauben in fernen Galaxien, während es hier und jetzt unfassbar viel zu erledigen gibt: Haikus in Zierkissen sticken, Orchideen streicheln, Facebook-Status aktualisieren ("Keks gegessen. Tastatur verbröselt").

Irgendwann tritt eine Art Star Trek-Physik in Kraft. Das Raum-Zeit-Kontinuum reißt, aus Wurmlöchern dringen dunkle Ahnungen, der Kosmos krümmt sich und gebiert eine Deadline mit sofortiger Fälligkeit. Jetzt heißt's ranhalten und auf Warp-Geschwindigkeit schalten! Das ist schön, da spürt man, dass man lebt.

Das alles tippe ich leise, so leise wie möglich in die Maschine, schschschsch, denn Prokrastination ist eine heimliche Kunst. Wer (hinaus)zögert, ist suspekt; eine Gräte in der Kehle, ein Stein im Gallengang der Leistungsgesellschaft. Sogar der Volksmund schimpft auf unsereins: "Wer singt cras, cras, gleichwie ein Rab, der bleibt ein Narr bis hin zum Grab", besagt ein Sprichwort, das seit Ovid im Umlauf ist (cras = morgen).

Deshalb - so meine Vermutung - müssen wir mit einem erbarmungswürdigen Begriff vorliebnehmen: Prokrastination. Ehrlich: Ein Wort, das derart in den Ohren scheppert, lass ich mir maximal im Kontext komplizierter Eingriffe einreden, etwa in der Zahnmedizin ("Der Fünfer ist durch und durch kariös, da hilft nur eine Prokrastination"), im Dunstkreis von Gewaltverbrechen ("Er wurde prokrastiniert. Schrecklich") oder bei Pflegeprodukten für wenig attraktive Körperregionen ("Mit dem Schrunden-Hobel lässt sich die Hornhaut mühelos prokrastinieren").

Dabei ist die Praxis des Prokrastinierens vielfältig und schillernd! In Abwandlung eines Tolstoi-Zitats lässt sich behaupten: "Alle Macher sind einander ähnlich, aber jeder Prokrastinierer prokrastiniert auf seine besondere Art." Da gibt es die Verschlepper, die Verdränger, die Verschieber, die Verhandler, die Versandler.

Falls es Sie interessiert: Ich bin Verschlepper, Aszendent Verhandler. Ich vereinbare Deals mit meinem schlechten Gewissen ("Hör mal, die Steuererklärung kommt nächste Woche dran. Schwöre. Ich biete dafür ein lange hinausgezögertes Telefonat mit Mathe-Lehrerin des Sohnemanns. Kommen wir ins Geschäft?"). Manche Bänke sind so lang, dass ihre Ablagefläche bis an den Horizont reicht.

Apropos: Wo bewahren Sie Ihre Restpost auf? Bei mir liegt sie auf der Anrichte gleich neben der Eingangstür. Die Restpost ist ähnlich beliebt wie der Restposten, deshalb heißt sie auch so. Meine liebste Restpost kommt von der SVA und enthält eine Zahlungsaufforderung. Jeder selbstständig Erwerbstätige in Österreich kennt diese Zuschriften, ein nicht unbeträchtlicher Teil fürchtet sie.

Um ihren zerstörerischen Zauber abzupuffern, lege ich sie unter einen Stapel eleganter Wohnzeitschriften - in der Hoffnung, dass Schönheit abfärbt. Leider verhielt es sich bislang genau umgekehrt: Wo immer ich A rchitektur & Wohnen oder Die schönsten Häuser sah, vermutete ich offene Rechnungen und erschauerte.

Im Übrigen pflegt die SVA dicke Briefe zu versenden, die sich immer wieder ins Sichtfeld kämpfen, denn sie enthalten nicht nur die Rechnung (getarnt als Kontoauszug), sondern auch Beschwichtigungsprosa à la "Was wir nicht alles für Sie tun". Das weiß ich, weil ich den Brief irgendwann doch öffne. Und zwar ausschließlich zu Bürozeiten, um mich im Falle des Falles umgehend beschweren zu können. Wichtig: Ich lese den Brief nicht, wie man ein Buch liest, sondern überfliege ihn mit Schlafzimmerblick und angehaltenem Atem, um Dauer und Intensität des Schmerzes zu minimieren.

So verfahre im Prinzip mit jeder Zuschrift, die Mühsal verspricht. Gut abliegen lassen bis zu jenem Zeitpunkt, an dem der langfristig zu erwartende Schaden doppelt so groß zu werden droht wie die Unlust bei Erledigung. Jeder hat so seine Strategien. Wobei die Prokrastinationsgelegenheiten nach Branche erheblich variieren. Eine selbstständige Seele ist freier als etwa ein katholischer Priester, der zu diesem Thema bekannte: "Ich kann nicht sagen: Ich habe heute keine Lust auf Hochzeit. Das geht nicht. Ich muss es tun."

Prokrastination klingt nicht nur wie eine Diagnose - sie ist auch eine. Genauer: "Eine ernsthafte Störung der Selbststeuerung in einem pathologischen Ausmaß", wie wir auf der Homepage der " Prokrastinationsambulanz" nachlesen können. Diese befindet sich an der Uni Münster, und dort wird geforscht auf Teufel komm raus, um der Klientel dem- nächst "entsprechende Behandlungsmöglichkeiten" anbieten zu können.

Meister der kreativen Ablage

Pathologisch? Pah! Prokrastinierer sind keine Tachinierer. Ich will mir meine tägliche Prokrastinationsration nicht wegtherapieren lassen! Sie ist meine Lila Pause, mein Gedanken-Generator, mein Synapsen-SPA. Der Prokrastinierer tut die richtigen Dinge, wenn auch zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Er ist Ankündigungsgroßmeister und Umsetzungszwerg. Ein Meister der kreativen Ablage. Natürlich ist das wider die Vernunft und verstößt gegen sämtliche Gebote der Zeitmanagement-Propheten. Aber sagen Sie mal der Vernunft, dass es günstiger wäre, nur ein kleines Eckchen Amaretto-Marzipan-Schokolade aus der berühmten steirischen Schokolademanufaktur zu essen.

Das alles werde ich den Psychologen der Uni Münster erzählen. Ich werde ihnen erzählen, dass ich keine To-do-Listen anlege, sondern ellenlange Don't-do-Listen. Dass ich die Umwege schätze, die Nebengeräusche, die schmalen, gewundenen Gassen abseits der Zielgeraden. Dass ich nicht daran denke, mich dem Effektivitäts- und Effizienz-Terror zu unterwerfen (was praktisch ist, weil ich mir den Unterschied eh nicht merken kann). Dass sich nicht wenige Probleme ohnehin von alleine lösen. Dass sich Sofort-Erlediger und Proaktive um jene Cliffhanger bringen, die dem Leben erst den gewissen Thrill verleihen: Geht es sich aus? Geht es nicht aus?

Und dass wir uns mal um die positiven Konsequenzen der Erledigungsblockade kümmern sollten: Wie viele Kinder wurden gezeugt, wie viele Bäume gepflanzt, wie viele Häuser gebaut, nur weil eine oder einer es nicht geschafft hat, bei der Telekom anzurufen, um eine Störung zu melden? Wenn man wollte, könnte man sich sogar zu der Behauptung versteigen, dass wir die Entdeckung des Penicillins der Prokrastination zu verdanken haben. Der Legende zufolge verlustierte sich Alexander Fleming auf einer Urlaubsreise, statt sich um seine Staphylokokken-Kulturen zu kümmern, die in ihren ungekühlten Schalen lustig vor sich hin schimmelten.

Gehen wir noch einen Schritt weiter: Wer weiß, wie oft die Welt durch Prokrastination gerettet wurde? ("Sie können jetzt den Auslöser betätigen, alles ist bereit." - "Zu Befehl, General. Ich sauge nur noch einmal schnell die Kommandobrücke.")

Ich setze mich für einen Pro-Prokrastination-Diskurs ein, liebe Prokrastinationsforscher. Und für ein frisches Vokabular. Wobei Aufschieberitis als Alternative nicht taugt. Das -itis wie in Arthritis zeigt eine Entzündung an, in diesem Falle wohl des Erledigungsorgans. Wesentlich passender aber erscheint mir das Suffix -ose (wie in Osteoporose), das eine Degeneration bezeichnen kann, einen langsamen Abbau der Substanz. Aber ich gebe zu, dass der Begriff Aufschieberose nicht das Gelbe vom Ei ist, er ist nicht einmal das Weiße, Glibbrige. Ach, wir benötigen ein Wort, das glitzert und funkelt.

Wie wär's mit "Mañana-Syndrom" (von mañana, morgen)? Obzwar poetischer, zeigt das "Syndrom" doch wieder den Rückfall in die Pathologie an. Weshalb nicht "Mañanophilie"? Die Neigung/Freundschaft/Leidenschaft für den morgigen Tag. Das gefällt mir. Das glänzt mit vielen schönen Vokalen und kommt ohne knirschende Konsonantenkombination aus. Dieses Wort kann man singen, tanzen, jubilieren. Ja, ich bin mañanophil. Ich werde in der Duden-Redaktion anrufen. Morgen. Schwöre.

Isabella Straub, geboren in Wien, lebt in Klagenfurt. Orchideenstudium, danach Journalistin, jetzt Werbetexterin. Sie ist Absolventin der Leondinger Akademie für Literatur 2008/09. Diverse Auszeichnungen für Kurzgeschichten, unter anderem: Finalistin Werner-Bräunig-Literaturpreis 2009, Gewinnerin Wortlaut 2011, Longlist MDR-Literaturpreis 2012. Der Roman "Südbalkon" erscheint im März 2013 im Blumenbar-Programm bei Aufbau. (Isabella Straub, Album, DER STANDARD, 5./6.1.2013)