"Das Wichtigste ist einzuschätzen, ob der Patient noch zeitlich und örtlich orientiert ist. Ist das der Fall, dann kann ich im Normalfall davon ausgehen, dass ich noch vernünftig mit diesem Menschen kommunizieren kann, erklärt Alexander Auer, stellvertretender Leiter der Rettungsakademie der Berufsrettung der Stadt Wien. Vor aggressiven Reaktionen schützt ihn das zwar nicht automatisch, manchmal lässt sich aber eine angespannte Situation auf diese Weise kalmieren.
Auer ist seit 20 Jahren für die Wiener Berufsrettung im Einsatz und hat sich mit dem Thema Aggression und Alkohol intensiv beschäftigt. In einer Studie, die er 2008 gemacht hat, hat er 203 Fälle von aggressiven Übergriffen von Patienten ausgewertet. 40 Prozent davon standen in unmittelbaren Zusammenhang mit Alkohol.
Beschimpfen und beleidigen
Aggressives Verhalten unter Alkoholeinfluss ist ein bekanntes Phänomen. Die WHO zählt von allen bewusstseinsveränderenden Substanzen Alkohol zu jener, die am ehesten aggressiv macht. Während die meisten Menschen im nüchternen Zustand auf Gefühle, überlegte beziehungsweise gesellschaftlich akzeptierte Handlungen setzen, gerät bei alkoholisierten Personen die Emotionsverarbeitung manchmal völlig außer Kontrolle. Wissenschaftler machen dafür unter anderem eine eingeschränkte Funktion des Stirnhirns verantwortlich. Nebenbei scheinen auch die Botenstoffe Dopamin und Serotonin eine Rolle zu spielen, wie Tierexperimente gezeigt haben. Wie das im Detail beim Menschen funktioniert, ist allerdings noch nicht erforscht.
Es sind negative Gefühle, wie Frustration oder Angst, die Menschen aggressiv machen. Wie die Aggression zum Ausdruck gebracht wird, ist jedoch ganz unterschiedlich. Ein aggressiver Mensch geht nicht zwangsläufig auf sein Gegenüber körperlich los. Auch verbale Beschimpfungen und Beleidigungen, sexuelle Übergriffe und autoaggressives Handeln fallen in diesen Bereich.
Ruhig und freundlich
Eine vernünftige Kommunikation kann für Auer daher auch bei zeitlich örtlicher Orientierung seiner Patienten zur Herausforderung werden. "Ich versuche meine Ausdrucksweise an den Patienten anzupassen, damit er mich auch versteht, denn ich muss davon ausgehen, dass er eventuell aus Unverständnis aggressiv wird", betont Auer und ergänzt: "Das heißt nicht dass ich mich mit dem Patienten verbrüdern oder in ein per Du übergehen muss". Schreien, lautes Sprechen und Ironie sind nicht angebracht. Vielmehr kann ein ruhiger freundlich bestimmter Tonfall in angemessener Lautstärke, Wunder wirken.
Sind aggressives Verhalten oder Gewaltbereitschaft offensichtlich, dann hält Auer von vornherein einen Sicherheitsabstand ein. "Ich muss nicht in die Intimsphäre eines Patienten eindringen, indem ich sofort den Blutdruck zu messen beginne". Eine Armlänge Abstand gilt als Regel. Sitzt oder liegt der Patient am Boden, dann begibt sich der Rettungssanitäter in Augenhöhe, damit er für den Betroffenen von oben herab nicht als Bedrohung wahrgenommen wird und aus einer Bedrängnis heraus aggressiv reagiert.
Bringt das alles nicht den gewünschten Erfolg, dann zieht Auer die Polizei hinzu. "Das ist ein Bauchgefühl, das man lernen muss - zu erkennen, wann die Sache eventuell aus dem Ruder laufen könnte".
Rechtliche Grauzone
Schwierig kann es auch werden, wenn die Lage zwar nicht eskaliert, der Patient jedoch eine notwendige medizinische Intervention verweigert. "Hier sind wir in eine rechtlichen Grauzone, denn prinzipiell darf kein Mensch gegen seinen Willen hospitalisiert werden", so Auer. Dokumentation ist in diesen Fällen das um und auf. Was der Rettungsdienst nicht darf: Einen betrunkenen Patienten sedieren oder fixieren.
Ist der Patient nicht mehr zurechnungsfähig, also weder zeitlich noch örtlich orientiert, dann gilt das Unterbringungsgesetz das bei Selbst- oder Allgemeingefährdung in Kraft tritt. Der Alkoholisierte darf dann zwar gegen seinen Willen in ein Krankenhaus gebracht werden, allerdings ist die einzige Anlaufstelle für die Rettungsdienste dann die Psychiatrie. "Bei stark alkoholisierten Patienten kann sich diese jedoch als nicht zuständige Abteilung herausstellen", ergänzt Auer.
Deeskalation trainieren
Die Konfrontation mit betrunkenen aggressiven Patienten ist nicht nur in der Silvesternacht ein Thema. Das hat auch die Wiener Berufsrettung erkannt. Seit vier Jahren gibt es eigene Deeskalationstrainer, die jährlich rund 450 Mitarbeiter in einem 40-stündigen Kurs unterrichten, wie sie in Konfliktsituationen am besten zu Recht kommen. Dieser Personalaufwand hat, so Auers Einschätzung, nichts damit zu tun, dass die Menschen heute mehr Alkohol trinken, als früher. "Ich bin jetzt seit 20 Jahren bei der Wiener Rettung und das Phänomen des exzessiven Alkoholkonsums gab es schon damals. Der Unterschied ist: Heute geben betrunkene Jugendliche die Verantwortung eher ab. Früher hat man sich gegenseitig geholfen und nach Hause gebracht. Das tut man heute nicht mehr."(Regina Walter, derStandard.at, 4.1.2013)