Jan Vermeers Bilder erzählen nicht nur vom Alltagsleben, sondern von einem Schwebezustand, dem Hin-und-her-gerissen-Sein, in dem Menschen ihr Dasein fristen. Hier: "Die kleine Straße", zirka 1658, Öl auf Leinwand.

Foto: Rijksmuseum Amsterdam

Jede Schau versucht, einen neuen Aspekt eines Künstlers hervorzuheben und somit etwas Besonderes zu leisten. Das gelingt nicht immer. Der oft weniger mit kulturellen denn kommerziellen Aspekten liebäugelnde Ausstellungsbetrieb produziert so manchen "Event", auf den man gut und gerne hätte verzichten können.

Auf die Schau Vermeer. Das Goldene Zeitalter der holländischen Kunst in Rom trifft das nicht zu. Sie ist die jüngste von den vielen dem Maler Jan Vermeer in den letzten Jahren gewidmeten Ausstellungen. Ein ums andere Mal scheint man das Geheimnis Vermeer lüften zu wollen, bis bald nichts Mysteriöses mehr an der "Sphinx aus Delft" - wie sein Wiederentdecker, der französische Kunsthistoriker und Sammler Théophile Thoré ihn 1866 nannte - dranbleibt. Das schmale OEuvre des Malers wird in den kunsthistorischen Kontext eingebettet, um zu zeigen, dass Vermeer zwar genial, aber keine Ausnahme, sondern ein Kind seiner Zeit war.

Vermeer, der Bariton

Auch Rom folgt brav diesem Ansatz und kommt zu dem Schluss: Vermeer ist einzigartig. Behauptet sich seine Solostimme im Chor der Niederländer, besitzt sie zudem die stille Kraft, auch gegen die mächtigen Tenöre und Bässe des römischen Barocks anzusingen. Vermeer ähnelt einem Bariton, mal heldenhaft, mal lyrisch, vor allem immer Kavalier.

Frauenporträts nehmen einen großen Teil seines Werkes ein. Caravaggios Judith, die mit runzelnder Stirn auf das abgeschlagene Haupt des Holofernes schaut, Berninis vom Liebespfeil des Engels getroffene, vor Verzückung vergehende Heilige Therese, Pietro da Cortonas schwindelerregende Allegorie der Göttliche Vorsehung, all dies ist dem Besucher gegenwärtig, auch wenn diese Bilder nicht in der Ausstellung auf dem Quirinalshügel zu sehen sind. Rom ist der Inbegriff der Verherrlichung, der Ekstase, der illusionistischen Malerei in allen Farben, eine Kulisse, vor der Vermeers "Mysterium" gut zur Geltung kommt.

Statt dramatischer Heldinnen sanfte Frauen, statt Höllensturz und Himmelszelt bescheidene Innenhöfe, statt Pathos Verhaltenheit. In ebendieser Schlichtheit liegt die Erhabenheit von Vermeers zwar realistischen, zugleich seltsam entrückten Visionen. Vermeers Frauen üben sich nicht in sinnlicher Verführungskunst, sondern in seelischem Tiefgang. Das Wundersame daran ist aber, dass eben diese doch so unscheinbare Intimität bei Vermeer von unwiderstehlicher Anziehungskraft ist. Der Betrachter vermag sich dem Sog dieser Momentaufnahmen des menschlichen Daseins nicht zu entziehen.

Die Ausstellung ist zweifelsohne mustergültig, doch sie bietet beklagenswert wenige Bilder des Malers. Vermeers OEuvre ist schmal, es zählt, rechnet man die eine oder andere umstrittene Zuschreibung mit, gerade einmal 37 Gemälde. Den Weg nach Rom haben nur acht Bilder gefunden, obwohl es den Kuratoren nicht an internationalem Renommee fehlt: Arthur K. Wheelock ist verantwortlich für nordische Barockmalerei in der Nationalgalerie Washington, Walter Liedtke für europäische Malerei im Metropolitan Museum of Art New York.

So betrüblich es ist, dass Meisterwerke wie das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge oder Die Spitzenklöpplerin fehlen, so überzeugend ist die Auswahl des "Beiwerks", rund fünfzig Bilder der Landsmänner Vermeers. Obliegt Vermeer das Leitmotiv, ist der Chor für die Einführung in die einzelnen Kapitel der Schau zuständig und bietet zugleich Variationen zum Thema. Die Ausstellung ist ein Kammerstück, das Aufzug für Aufzug, Saal um Saal, mit einem leisen Crescendo in immer intimere Sphären vordringt; von Straßenansichten über Kirchen, Innenhöfe, Interieurs bis hin zu Schlafzimmern und schließlich zur Person, zum Porträt.

Allgegenwart der Bilder

Man täte den einzelnen Künstlern, darunter Cariel Fabritius, Emanuel de Witte, Pieter de Hooch oder Gabriel Metsu, unrecht, wollte man sie nur als Chormitglieder sehen. Sie besitzen Persönlichkeit, stilistische Eigenart, doch keiner von ihnen lässt den Besucher so innehalten wie die Stimme Vermeers. Seine Bilder erzählen nicht vom Alltag, sie erzählen von einem Schwebezustand, in dem der Mensch, hin und her gerissen zwischen Vergangenheit und Zukunft, von Ungewissheit geplagt, versucht, sein kümmerliches Dasein zu fristen. Es ist die Allgegenwart, die Vermeers Bilder eine so schaurig-schöne Anziehungskraft verleiht.  (Eva Clausen aus Rom, DER STANDARD, 28.12.2012)