Die ägyptischen Wähler und Wählerinnen haben sich also für eine Annahme der umstrittenen neuen Verfassung entschieden: keine Überraschung nach der ersten Wahlrunde, in der die (relative) Hochburg der liberalen Kräfte, Kairo, dabei war, was trotzdem nicht genügte, um als Zwischenergebnis ein Nein zustandezubringen. Diesmal waren ländliche Provinzen am Zug, die zum Teil über 80 Prozent Zustimmung aufweisen.

Überwältigend ist der Sieg für die Proponenten der Verfassung, die neue islamistische Elite Ägyptens, dennoch nicht: Mit der schwachen Wahlbeteiligung von 32 Prozent haben, wenn das vorläufige Ergebnis von 64 Prozent bestätigt wird, etwa 20 Prozent der Wähler dafür gesorgt, dass der Entwurf durchgeht. Präsident Mohammed Morsi wurde zwar im Juni mit nur 51,70 Prozent gewählt - bei einer Wahlbeteiligung von 49 Prozent kam er damit aber auf 25 Prozent Zustimmung der gesamten Wählerschaft.

Das heißt, dass die Parlamentswahlen, die die Annahme der Verfassung nun auf den Weg bringt, spannend werden. Im in der Folge wegen Wahlrechtsmängeln aufgelösten ersten Abgeordnetenhaus der Post-Mubarak-Ära kamen Muslimbrüder und Salafisten gemeinsam auf 75 Prozent, bei einer höheren Wahlbeteiligung als bei den späteren Urnengängen. Dieses Ergebnis fällt ihnen bei den kommenden Wahlen wahrscheinlich nicht mehr so leicht in den Schoß: Laut Wählerbefragungen haben nicht wenige für die Verfassung gestimmt, weil sie stabile Verhältnisse haben wollen, nicht weil sie so sehr mit den Islamisten sympathisieren. Andererseits ist die Mobilisierung bei Parlamentswahlen - für einen lokalen Kandidaten, den die Wähler kennen - leichter als für einen abstrakten Verfassungstext.

Stunde der Wahrheit

Aber auch für jene Kräfte, die die Verfassung abgelehnt haben, kommt die Stunde der Wahrheit. Sie sind in die Islam-Falle gegangen: Es ist ihnen nicht gelungen aufzuzeigen, dass es sich vor allem um eine demokratisch fehlerhafte Verfassung handelt, Islam hin oder her. Angst vor einer Islamisierung der Gesellschaft, das ist und bleibt in Ägypten ein Minderheitenprogramm. Was die säkularen, linken und liberalen Fraktionen aber mitnehmen, ist zumindest der Ansatz einer Zusammenarbeit. Man wird sehen, ob die neue Einigkeit des antiislamistischen Lagers auch einen Wahlkampf überstehen kann.

Die meisten Ägypter wünschen sich erst einmal nichts sehnlicher als Stabilität. Ohne sie gibt es auch nicht die wirtschaftliche Konsolidierung - die letztendlich darüber entscheiden wird, ob sich die Muslimbrüder länger an der Macht halten können. Die Armee gibt sich neutral, als Bewahrerin der staatlichen Ordnung, ohne zu sagen, auf welche Seite sie sich wirklich schlagen würde, wenn das Land nicht zur Ruhe kommt. Davon, dass ihre Privilegien in der neuen Verfassung kaum angetastet werden, hätte man vonseiten der Opposition auch gerne mehr gehört. So kann man beiden Seiten, den Islamisten und ihren Gegnern, ein unsauberes Verhältnis zu den Militärs nachsagen. (Gudrun Harrer, DER STANDARD, 24./25./26.2012)