Joshua Foer: "Alles im Kopf behalten. Mit lockerem Hirnjogging zur Gedächtnismeisterschaft", Goldmann-Verlag, Dezember 2012

Foto: Goldmann-Verlag

Eigentlich sollte es nur ein Artikel über die US-Gedächtnismeisterschaft des Jahres 2005 werden. Der damals 22-jährige freie Journalist Joshua Foer stellte sie sich als den "Superbowl der Gedächtnisgenies" vor. Die Gedächtnismeisterschaften finden jährlich in den USA statt. Die Mentalathleten treten dabei in verschiedenen Disziplinen gegeneinander an. Der Sieger nimmt an den Gedächtnisweltmeisterschaften teil.

Doch weder war die Veranstaltung sonderlich aufregend, noch handelte es sich um "Genies", wie Foer erfahren sollte. Fokusiertes Training soll das Rezept dazu sein, sich drei Kartendecks in kurzer Zeit zu merken oder mehr als hundert Namen den richtigen Gesichtern in der vorgegebenen Zeitspanne zuzuordnen.

Der junge Journalist wurde neugierig und startete einen Selbstversuch. Er schloss mit dem Gedächtnisgroßmeister Ed Cooke die Übereinkunft, dass dieser ihn trainieren werde - mit dem Ziel, US-Gedächtnismeister in nur einem Jahr zu werden. In seinem Buch "Alles im Kopf behalten" beschreibt Foer, wie er sich einen Gedächtnispalast zulegen musste, den Mann mit dem wahrscheinlich schlechtesten Gedächtnis traf, sich selbst der Wissenschaft zur Verfügung stellte und schlussendlich tatsächlich die Meisterschaft gewann.

derStandard.at: Als Sie Ihren Selbstversuch starteten, ein Gedächtnismeister zu werden, lebten sie noch bei Ihren Eltern. Nun hielten Sie sogar einen Vortrag bei den "TED talks", wo die "weltweit führenden Denker und Macher" sprechen. Haben Sie sich dadurch verändert?

Foer: Es ist wahr, niemand hat mich zu einem TED talk eingeladen, als ich noch bei meinen Eltern wohnte. Offensichtlich haben sich die Umstände meines Lebens verändert. Ich glaube aber nicht, dass ich mich geändert habe.

derStandard.at: Inwiefern hat es Ihr Buchkonzept verändert, dass Sie schlussendlich nach nur einem Jahr Training wirklich die US-Gedächtnismeisterschaften gewonnen haben?

Foer: Nun, ich hatte vor, ein Buch über diese seltsamen Individuen zu schreiben, die ihre Gedächtnisleistungen trainieren, um erstaunliche Kunststücke zu vollbringen. Als ich meine Recherche begann, hatte ich keine Ahnung, dass ich eines Tages einer von ihnen sein könnte.

Ich dachte, dass ich an dem Wettbewerb teilnehme, um eine Art Nachsatz zu haben, einen netten Epilog für die Geschichte, die ich erzählen wollte. Ich rechnete nicht damit, zu gewinnen. Als ich es aber tat, war meine erste Reaktion: "Oh nein, das verändert wirklich die Geschichte. Nun muss ich die Hauptfigur sein." Glücklicherweise. Ich glaube, dass es die Geschichte verbessert hat.

derStandard.at: In Ihrem Buch "Alles im Kopf behalten" beschreiben Sie, dass Ihre Reise damit begann, dass Sie zwei Gedächtnisgroßmeister trafen - einer von ihnen war der Österreicher Lukas Amsüß. Glaubten Sie ihnen, dass jeder Mensch die Fähigkeit hat, zwei Kartendecks in nur fünf Minuten auswendig zu lernen?

Foer: Jetzt glaube ich ihnen das. Ich bin überzeugt davon. Es ist gar nicht so schwer so etwas zu schaffen.

derStandard.at: Wann haben Sie sich entschieden, Ihre Gedächtnisleistung trainieren zu wollen?

Foer: In dem Moment als ich hörte, dass es möglich ist. Es war mir aber nicht klar, wie intensiv ich mich in Folge mit der Welt des Gedächtnistrainings beschäftigen sollte. Erst als ich aufschaute, wurde mir bewusst, dass ich bis zum Hals darin steckte.

derStandard.at: Wie schwer war das Training? Haben Sie jemals daran gedacht, aufzugeben?

Foer: Ich versuchte, jeden Tag fünfzehn Minuten irgendwo in meiner Nachbarschaft zu verbringen und Dinge auswendig zu lernen: Gedichte, Namen in alten High-School-Jahrbüchern, Listen mit Telefonnummern. Ich stellte fest, dass ich immer besser wurde. Und das Ganze machte überraschend viel Spaß. Man würde nicht glauben, dass Nummern auswendig zu lernen so vergnüglich sein kann, aber für den Trick aus dem Altertum, den ich gelernt habe, muss man bedeutungslose Informationen in wilde, bizarre, lustige und manchmal auch vulgäre Gedankenbilder umwandeln. Es ist eine Leistung der Vorstellungskraft, der Kreativität und des Gedächtnisses.

derStandard.at: Welchen Trick meinen Sie damit?

Foer: Eine der Haupttechniken der Gedächtniskunst stammt aus dem fünften Jahrhundert vor Christus und ist als "Gedächtnispalast" bekannt. (Anm. d. Red: Dabei werden abstrakte Dinge in leicht einprägsame Bilder umgewandelt und diese schließlich in einem bekannten Gebäude abgelegt. Um das Gemerkte wiederzugeben, schreitet der Gedächtnisathlet sein Gebäude ab und erinnert sich an die abgelegten Bilder.) Ich finde noch immer Möglichkeiten, diese Technik im täglichen Leben anzuwenden. Eigentlich wurde der Gedächtnispalast entwickelt, damit sich Vortragende ihre Rede merken können. Es ist ein unglaublich effizientes Hilfsmittel, um das zu tun.

derStandard.at: Für Ihr Buch haben Sie sich intensiv mit den Themen Gehirn und Gedächtnisleistungen auseinandergesetzt. Sie vergleichen altertümliche Theorien und Techniken mit modernen Methoden. Was waren die überraschendsten Fakten, die Ihnen unterkamen?

Foer: Das Überraschendste, was ich dabei lernte, war das, was ich an mir selbst entdeckte: Dass unser Gedächtnis in der Lage ist, außergewöhnliche Kunststücke zu vollbringen - Kunststücke, die auf den ersten Blick unmöglich erscheinen -, wenn wir uns auf die richtige Art verwenden.

derStandard.at: Für Ihr Buch haben Sie recherchiert, dass es kein fotografisches Gedächtnis gibt. Warum nicht?

Foer: Es gibt exakt nur einen Fall in der wissenschaftlichen Literatur, in dem eine Person einen Schnappschuss mit ihrem Gedächtnis machen und später perfekt rekonstruieren konnte. Heute zweifeln viele Psychologen an dieser speziellen Studie. Unsere Gehirne sind nicht für ein fotografisches Gedächtnis gemacht.

derStandard.at: Sie haben viele interessante Personen getroffen, die etwas mit dem Thema "Erinnerung" zu tun haben. Wie sehr hat es sie aber berührt, zu sehen, wie der Mann mit der geringsten Erinnerungsleistung sein Leben meistert?

Foer: Ich habe einige Zeit mit dem Mann verbracht, der in der medizinischen Literatur als EP bekannt ist und vielleicht die schlechteste Erinnerung der Welt hat. Seine Erinnerungsfähigkeit ist so schlecht, dass er nicht einmal realisierte, dass er ein Gedächtnisproblem hat. Seine Geschichte war absolut tragisch aber sie hat mir auch gezeigt, wie uns unsere Erinnerungen zu denjenigen machen, die wir sind, und dass sie die Wurzeln unseres Seins sind.

derStandard.at: Nachdem Sie Kim Peek getroffen haben, der Vorbild für Dustin Hoffmans Rolle in "Rain Man" war, interviewten Sie auch Daniel Tammet, der als mathematischer Inselgelehrter und Wunderkind berühmt ist. Warum zweifeln Sie an der Wunderkind-Geschichte?

Foer: Tammet ist wahrscheinlich der berühmteste "Inselgelehrte" der Welt, aber als ich mich mit seiner Geschichte beschäftigte, entdeckte ich eine Zahl von Ungereimtheiten, die mich sehr misstrauisch gegenüber den Erzählungen machte, die er über sich konstruierte. Wir wollen verzweifelt glauben, dass es Menschen unter uns gibt, die diese außergewöhnlichen, fast außerirdischen Fähigkeiten haben. In Daniels Fall gibt es aber weit mehr interessante Dinge zu lernen: Mit dem richtigen fokussierten Training sind wir alle in der Lage, außergewöhnliche Dinge zu leisten.

derStandard.at: Nach allem, was Sie über Gedächtnistraining gelernt haben: Wie effizient ist das moderne Schulsystem?

Foer: Ich glaube, dass viele Geisteswissenschaftler frustriert sind, dass ihre Erkenntnisse nicht bis in die Klassenzimmer durchsickern. Zum Beispiel wissen wir seit einem Jahrhundert vom Wert der "Spaced Repetition". Der beste Weg, um Informationen auf lange Zeit zu behalten, ist, von ihnen eine gewisse Zeit lang Abstand zu nehmen und wieder zurück zu kommen. Und jetzt? Unser gesamtes System des Lehrens ist zu diesem gut etablierten Prinzip der Geisteswissenschaft komplett entgegengesetzt aufgebaut. Statt dass das Material in regelmäßigen Intervallen wiederholt wird, um es zu festigen, sind die Lehrinhalte in Blöcken strukturiert. 

Obwohl wir wissen, dass es wichtig ist, eine anhaltende Beziehung zu dem Lernmaterial aufzubauen, dass wir bewältigen wollen, um es zu festigen, tendieren wir dazu es in einem einmaligen Stoß zu lernen. Es ist typisch, dass ein einziges Fach in einer relativ kurzen Zeit gelehrt wird. Studenten sind dazu aufgefordert, für eine Endprüfung zu lernen, die ihre Erinnerung an die Information überprüfen soll und am nächsten Tag ist es ihnen erlaubt, alles zu vergessen, das sie gelernt haben. Selten, wenn überhaupt, gibt es noch eine Überprüfung zu einem späteren Zeitpunkt, um zu testen, ob die Studenten noch wissen, was ihnen beigebracht wurde. Alles, was wir darüber wissen, wie das Gedächtnis funktioniert, legt nahe, dass das eine fürchterliche Art zu lernen ist. Unsere Ess- und Brechmentalität ist ein Rezept für oberflächliches Lernen - und für Vergesslichkeit.

derStandard.at: Sie haben sich nach den Weltmeisterschaften dafür entschieden, Ihre kurze Karriere als Gedächtnissportler zu beenden. Warum? Bereuen Sie diese Entscheidung manchmal?

Foer: Ich bin Journalist. Ich bin mit einer Reihe von Fragen zu diesem Thema gekommen und habe das Gefühl, diese beantwortet zu haben. Nun widme ich mich anderen Themen. Und anderen Fragen. (Bianca Blei, derStandard.at, 27.12.2012)