Wien - Im Hause Goethe wurde eine Tinte von besonderer Sorte verwendet: " ¼ Lb ganz ziegelroth gebrannter Eisenvitrol, ¼ Lb Gallus, ½ Loth Gummi Tragant, ¼ Loth gebrannte Alaun; fein gemischt und gut gebrannt: Dann wird darauf kaltes Flusswasser gegossen. Herauskommen dabei "zwey Kannen" Tinte. Es war die Zeit, als man sich, wenn man schreiben wollte, die Tinte noch selbst mischen musste. Zu kaufen gab es sie in jenen Jahren nicht.

Und doch gibt es eine Fülle von Briefdokumenten aus dieser Zeit, die von dem Schreibeifer der Menschen damals zeugen - und von ihrem Glauben an den Brief als das Einzige, was die ewige Ferne bezwingt. Indes: Davon kann heute keine Rede mehr sein. Das Briefeschreiben als Kulturtechnik scheint den meisten nichts mehr zu bedeuten.

Im Zeitalter konkurrierender Medien, von Telefon und Fax, E-Mail, SMS und der digitalen Grußkarte mit animierten Weihnachtsmännern oder in Flashfilmchen gegossener Botschaft hat der Brief so gut wie kaum noch eine Chance. Für die meisten ist er längst zum umständlichen und auch unverständlichen Medium geworden, ein Relikt vergangener Epochen, ausgeliefert spöttischer Verachtung und kulturkritischer Kleindeuterei.

Die meisten waren sich da ihrer Sache ziemlich sicher, zumindest noch im 19. Jahrhundert. Der Brief spiegelte da noch die offizielle Hierarchie der Wertvorstellungen jener Zeit wider. Johann Fürchtegott Gellert hatte sich schon im 18. Jahrhundert vom schwülstigen Schreibstil der höfischen Gesellschaft verabschiedet und der Briefkultur einen natürlichen Schreibstil verordnet. Doch im Volk behauptete sich gerade auch in der Anrede eine gewisse hierarchische Distanz. Zum Beispiel findet man in kleinen sprachlichen Indizien die Herrschaft des Vaters immer wieder bestätigt: "Mein Sohn! Ich und Deine liebe Mutter ..." Oder: "Nie wird Deine Mutter aufhören, Dich zu lieben, und ich werde zeitlebens verbleiben Dein treuer Vater."

Freude am Kugelschreiber

Das war dann noch der übliche Tonfall zum Ausklang des 19. Jahrhunderts. Die in die Tinte getauchte Gänsefeder musste ein paar Jahrzehnte später dem Füllfederhalter weichen, und ein Autor wie Gottfried Benn geriet in hellste Verzückung, als er von seiner ehemaligen Geliebten Gertrud Zenses aus Amerika den ersten Kugelschreiber erhielt, "ein herrlicher Füllfederersatz, der mein ganzes Glück ist, weil es etwas so Brauchbares in ganz Germany nicht giebt". Nietzsche hatte immerhin schon ein paar Jahrzehnte vorher mit der ersten Schreibmaschine gearbeitet. Allerdings hegte er Bedenken, die dem einen oder anderen auch beim Schreiben mit dem Computer kommen: "Das Schreibwerkzeug arbeitet mit unseren Gedanken." So findet sich in einem von Nietzsche an seinen Freund Peter Gast getippten Brief der handschriftliche Vermerk: "Teufel! Können Sie das auch lesen?!"

An Trivialität litt die "Briefkultur" keinen Mangel. Sie konnte sich auf berühmte Vorbilder berufen, die stilbildend durch die Jahrzehnte den Brief begleitet haben. Zum Beispiel der Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller. Auch der lebte von der räumlichen Distanz zwischen den Schreibenden. In den Jahren 1795 bis 1799 wechselten beide zwischen Weimar und Jena die Briefe nahezu täglich.

Gelungene Briefe sind freilich mehr als nur auseinandergefallene Teile eines schlechten Gesprächs. Allerdings erliegen auch sie der Gefahr des Austrocknens und des Substanzverlustes, wenn die Briefschreiber am selben Ort leben. Dann schrumpft ihr Inhalt zu kurzen Mitteilungen, weil beide Seiten die Unmittelbarkeit des Gesprächs vorziehen. Solch einen Fall stellt der Briefwechsel zwischen Hugo von Hofmannsthal und Arthur Schnitzler dar, der in geringer Distanz zwischen Wien und Rodaun vonstattenging, eine Entfernung, die sich jederzeit mühelos überwinden ließ. Auch hier stellt man am Ende fest, dass beiden Autoren das Briefeschreiben die Unmittelbarkeit des Gesprächs nicht ersetzen konnte.

Das Bemühen, sämtliche Briefe bedeutender Persönlichkeiten auf jeden Fall zu veröffentlichen, war schon recht früh zu beobachten. Ludwig Börne spottete: Herr von Goethe werde zuletzt noch seine Säuglingswindeln herausgeben. Zunächst aber war der Brief privat und nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Goethe und Schiller haben sicherlich geahnt, dass man ihre Briefe einmal veröffentlichen wird. Deswegen enthalten diese auch nichts, was ihren Autoren unangenehm oder peinlich hätte sein müssen.

Schriftliches Werben

Ausnahmen bestätigen aber die Regel, wenn Schiller etwa an Theodor Körner schreibt: "Könntest Du mir innerhalb eines Jahres eine Frau von 12000 Thalern verschaffen, mit der ich leben, an die ich mich attachieren könnte, so wollte ich Dir in 5 Jahren - eine Fridericiade, eine klassische Tragödie und weil Du doch so darauf versessen bist, ein halbes Dutzend schöner Oden liefern - und die Academie in Jena möchte mich dann am Arsch lecken." Der Brief wird durch die Stimmung des Schreibenden bestimmt - und durch den Adressaten, wie er sich dem Briefschreiber in seiner Imagination bietet. Man ist allein, wenn man schreibt. Der Brief steht zwischen Einsamkeit und Geselligkeit. So schreibt Hölderlin an Hegel: "Übrigens wünscht ich doch oft, Dir nahe zu sein ... Das Briefschreiben ist zwar immer nur Notbehelf; aber doch etwas. Deswegen sollten wir es doch nicht ganz unterlassen. Wir müssen uns zuweilen mahnen, dass wir große Rechte aufeinander haben."

Der Liebesbrief oder der romantische Brief scheint am stärksten auf die Vorstellung oder Anschauung des oder der einen angewiesen zu sein. Der Neuromantiker Rilke etwa steigerte die Lust am Selbst zur poetischen Obsession: "O Lou", schreibt er an die lebenslange Exgeliebte Lou Andreas-Salomé, "in einem Gedicht, das mir gelingt, ist viel mehr Wirklichkeit als in jeder Beziehung oder Zuneigung ..." Die Antwort kam postwendend und liest sich ganz schön zynisch: "Ich glaube, dass du leiden mußt."

Und dann der letzte Brief. Er kann zufällig der letzte sein, ohne dass dies dem Autor bewusst ist. Aber manchmal eben doch - wie im Fall des Philosophen Bertrand Russell, der sich schwungvoll von seiner in dreißigjährigen Liebesdiensten ergrauten Gefährtin verabschiedet: "... ich will deinen Geist, meine Liebste." Der letzte Brief kann aber auch eine Art Resümee darstellen. So heißt es in Goethes Brief an Wilhelm von Humboldt vom 17. März 1832: "Verwirrende Lehre zu verwirrtem Handeln waltet über der Welt."

Und Heinrich von Kleist schreibt in seinem letzten Brief an seine Schwester: "... wirklich, du hast an mir getan, ich sage nicht, was in Kräften einer Schwester, sondern in Kräften eines Menschen stand, um mich zu retten; die Wahrheit ist, dass mir auf Erden nicht zu helfen war ..." Der Brief als künstlerische Form des "Ferngesprächs", bei dem es dann letztendlich im übertragenen Verständnis heißen kann: kein Anschluss unter dieser Nummer. (Wolf Scheller, DER STANDARD, 22./23.12.2012)