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Kardinal Christoph Schönborn fürchtet soziale Spannungen in ganz Europa und mahnt mehr Solidarität statt "billiges politisches Kleingeldmachen" ein.

Foto: apa/Hochmuth

Wien - Kardinal Christoph Schönborn warnt vor einer Entsolidarisierung in Europa: "Wir stehen an einer Weggabelung: Bringen wir die Solidarität auf zusammenzubleiben? Oder betreibt man billiges politisches Kleingeldmachen mit neuen Nationalismen, neuem Schüren von alten Vorurteilen?", sagt er im STANDARD-Interview. Bei Letzterem würde man "in eine Richtung gehen, die es schon gegeben hat, nämlich zwischen den beiden Weltkriegen".

Dass es in Österreich keine sozialen Spannungen wie in anderen europäischen Ländern gibt, ist für ihn "ein großes Privileg: Wir sollten uns dessen bewusst sein, wie wenig selbstverständlich das ist."

Zur Strukturreform in der Erzdiözese Wien sagt Schönborn: "Es gibt keine Pfarrschließungen, sondern es wird Pfarrfusionen geben." Aufgrund der Finanzsituation sei klar, dass es zu einer Reduktion der Mitarbeiter kommen wird. Dass Jobs wackeln, schließt er aus: Man habe in den letzten Jahren Personal eingespart, und "es ist praktisch zu keiner Kündigung gekommen".

STANDARD: Der Papst twittert seit kurzem. Sie auch schon?

Schönborn: Ich bin da etwas langsamer, nicht so modern wie der Papst. Aber ich habe zumindest einen Auftritt, der "Frag den Kardinal" heißt, und das gibt es auf Youtube.

STANDARD: In einem dieser Filme sagen Sie, nicht Papst werden zu wollen. Warum nicht?

Schönborn: Papst werden ist kein Karrieresprung sondern eine gewaltige Bürde.

STANDARD: Der Papst twittert, Sie sprechen via Youtube - ist das die neue Art zu missionieren?

Schönborn: Die Kirche hat immer alle medialen Möglichkeiten genützt. Denken Sie an die Erfindung des Buchdrucks! Was war denn das erste gedruckte Buch? Die Bibel. In der Reformationszeit waren es die Flugblätter. Luther hat das sehr intensiv genutzt. Die ersten Radiobotschaften kamen von Pius XI.

STANDARD: In der Erzdiözese Wien wird gerade umstrukturiert - wie viele Pfarren werden geschlossen?

Schönborn: Es gibt keine Pfarrschließungen, sondern es wird Pfarrfusionen geben. Die Pfarre ist ein territorialer Begriff, sie kann größer oder kleiner gefasst sein. Es gibt Pfarren in Sibirien, da ist eine größer als ganz Österreich. Vor allem seit der josephinischen Reform sind wird extrem kleinteilig geworden, jetzt müssen wir wieder großteiliger werden - aber flächendeckend. Das ist der Kern dieser Strukturreform.

STANDARD: Haben Sie nicht Angst, dass sich durch die Schaffung größerer Einheiten die Seelsorge verliert?

Schönborn: Sie können neben der Kirche wohnen und ganz weit weg sein von der Kirche. Nähe und Distanz sind zuerst einmal persönliche Kategorien, die Menschen zur Kirche haben.

STANDARD: Ein einzelner Pfarrer in einer großen Einheit kann sich verlieren, zum Handelsreisenden in Sachen Glauben werden.

Schönborn: Wir sind in Österreich weit davon entfernt, bei dem josephinischen Maß angekommen zu sein. Kaiser Joseph II. hatte festgelegt, dass es nicht weiter als eine Gehstunde zur nächsten Pfarrkirche sein darf. Sagen Sie mir, wer heutzutage mehr als eine Stunde im Auto zur nächstgelegenen Kirche unterwegs sein muss? Wir haben Gott sei Dank ein sehr engmaschiges Netz an Pfarrgemeinden. Und das werden wir sicher auch versuchen zu erhalten. Nur die Organisationsform wird großflächiger, in den administrativen Strukturen wird es wohl Zusammenlegungen geben. Aber innerhalb der großen Pfarrgemeinden gibt es natürlich viele Filialgemeinden.

STANDARD: Verlieren jetzt Kirchenangestellte ihre Jobs?

Schönborn: Nein, wir haben nach wie vor einen sehr gut ausgebauten Stab an hauptamtlichen Mitarbeitern. Aber dass es auch hier Reduktionen geben wird, ist - aus der finanziellen Entwicklung heraus gesehen - zu erwarten. Allerdings wurde schon in den letzten zehn Jahren stark Personal abgebaut, und es ist praktisch zu keiner Kündigung gekommen.

STANDARD: Die Laien sollen kleinere, sogenannte Filialkirchen leiten. Welche Aufgaben dürfen sie übernehmen? Dürfen sie taufen?

Schönborn: Die Empfehlung geht dahin, sich das Zweite Vatikanum anzuschauen, was dort gesagt ist: Es geht nicht primär um Laien und Priester, sondern um Christenmenschen, alle Getauften. Sie sind alle befähigt, in ihrer Umgebung Zeugen des Glaubens zu sein. Jeder und jede ist dort, wo sie leben, Kirche.

STANDARD: Aber wo ist die Grenze?

Schönborn: Ich hoffe, wir kommen ein bisschen aus dieser Innensicht der Kirche heraus. Die Organisationsform der Gemeinde ist ein wichtiges Thema, aber die entscheidende Frage ist doch, ob wir alle, die wir uns Christen nennen, etwas von diesem Glauben auch vermitteln. Wie viel ich in der Gemeinde darf oder nicht, ist doch sekundär. Primär ist: Wird das Evangelium gelebt, ist christlicher Glaube im Betrieb, in der Firma, im Büro präsent?

STANDARD: Wenn der Laie das Gleiche macht wie der Priester ...

Schönborn: Den Priester werden wir immer als den Hirten der Gemeinde, als den, der der Eucharistie vorsteht, der Vergebung ausspricht, der im Namen Christi handelt, brauchen. Aber kein Pfarrer kann den Dienst alleine machen, er braucht immer Helfer.

STANDARD: Welche Ziele haben Sie sich für 2013 gestellt.

Schönborn: Wir befinden uns im Jahr des Glaubens. Die große Frage ist, wie es in unserer Gesellschaft weitergeht. Wir stehen mitten in einem dramatischen Umbruch. Was ist dabei die Rolle der Christen in den zentralen Wirtschaftsfragen oder den ethischen und sozialen Fragen. Wie gestalten wir den Weg Europas in den kommenden Jahren. Das sind Fragen, die in uns brennen müssen.

STANDARD: Wird sich die Kirche künftig gesellschaftspolitisch stärker einbringen?

Schönborn: Wir stehen ja mitten in diesen Fragen, und die gehen die gesamte Gesellschaft an. Statt des Turbokapitalismus brauchen wir die Rückbesinnung auf die "soziale Marktwirtschaft". Ob es noch gelingt, ob noch Zeit ist, das Steuer herumzureißen, das ist entscheidend. Wir sitzen im selben Boot. Ich glaube, die ganz dramatische Herausforderung, vor der wir stehen, ist: Wird es gelingen, so behutsam zurückzubauen in einer Gesellschaft, die nur gewöhnt war, zu wachsen, dass die Kosten dafür, die unvermeidlich sind, nicht von denen gezahlt werden, die so und so schon am unteren Rand der Möglichkeiten sind?

STANDARD: Fürchten Sie in Österreich soziale Spannungen?

Schönborn: Ich fürchte sie in ganz Europa. Und es gibt sie ja bereits. Dass Österreich davon bisher ausgenommen ist, ist ein ganz großes Privileg. Wir sollten uns dessen bewusst sein, wie wenig selbstverständlich das ist.

STANDARD: Gibt es überhaupt noch genug Solidarität?

Schönborn: Wir stehen an einer Weggabelung: Bringen wir die Solidarität auf zusammenzubleiben? Oder betreibt man billiges politisches Kleingeldmachen mit neuen Nationalismen, neuem Schüren von alten Vorurteilen? Dann gehen wir in eine Richtung, die es schon gegeben hat, nämlich zwischen den beiden Weltkriegen - mehr brauche ich nicht zu sagen. Und vor allem, das ist meine erste Sorge für 2013: Wird es gelingen, das Pulverfass des Nahen Ostens zu entschärfen, Frieden in jene Region zu bringen, von der die großen monotheistischen Religionen ausgegangen sind? (Peter Mayr/Markus Rohrhofer, DER STANDARD, 20.12.2012)