Inspieriert vom Foto eines Kinderkarussells...

Foto: Cassina; Charlotte Perriand Photographie Paul Gutmann Archives Charlotte Perriand DAGP 2012

...entwarf die Gestalterin Charlotte Perriand mit Pierre Jeanneret ihr Alpenbiwak.

Foto: Cassina; Charlotte Perriand Photographie Paul Gutmann Archives Charlotte Perriand DAGP 2012

74 Jahre später wurde es jetzt erstmals gebaut.

Foto: Cassina; Charlotte Perriand Photographie Paul Gutmann Archives Charlotte Perriand DAGP 2012

Sie war eine große Gestalt - und Gestalterin - der Moderne, arbeitete mit ebenso großen Künstlern, Designern und Architekten: Fernand Léger, Jean Prouvé, Pierre Jeanneret - und vor allem mit dessen berühmtem Cousin, Le Corbusier. Charlotte Perriand lebte von 1903 bis 1999. Zu Beginn ihrer Karriere leitete sie zehn Jahre lang das Atelier von Le Corbusier in Paris. In Teamarbeit entstanden Sitz-Ikonen wie der LC2 Grand Confort armchair, der B301 Reclining chair und Chaise longue B306. Die Stahlrohrmodelle werden heute als Designklassiker und Statussymbole hoch gehandelt, sie bevölkern weltweit Chefbüros und Lobbys von Vorstandsetagen, und auch in den Wohnzimmern prestigeträchtiger Kreativer sind sie gern ausgestellte Staffage. Status und Luxus standen bei Perriand jedoch nicht im Fokus. Fasziniert von Schlichtheit, von Funktion und Ästhetik der Maschine, verfolgte Perriand ihre Karriere als selbstständige Designerin - im stilistisch eher verschwommenen Zeitalter des Art déco mit all seiner Detailverliebtheit standen ihre Entwürfe von Anfang an für eine bahnbrechend klare Linie.

Weniger bekannt ist: Perriand verbrachte ihre Kindheit teilweise in Yenne, Savoyen, bei den Großeltern. Sie liebte die Alpen - bewunderte Massive und Täler nicht nur passiv, sondern auch als aktive Bergsteigerin und Skifahrerin. So kam es, dass sie auch Projekte wie Ski-Resorts und Chalets in ihr berufliches Schaffen einbezog. In Méribel stattete sie beispielsweise Hotels mit Möbeln aus, in Les Arcs ein Ski-Resort.

Refuge tonneau

Als das italienische Designlabel Cassina einige Jahre nach ihrem Tod die Rechte an Perriands Nachlass erwarb, fand sich eine erstaunliche Konstruktion unter den Zeichnungen: ein 1938 entworfenes, alpines Biwak. Cassina realisierte das von Perriand und Pierre Jeanneret entworfene Objekt heuer erstmals, authentisch getreu den Notizen und Skizzen.

Inspiriert vom Foto eines Kinderkarussells, mutet der fassförmige Körper des "Refuge tonneau" mit seiner Hülle aus Aluminium gleichzeitig zeitlos und futuristisch an - ein verblüffendes Statement der Modernität aus der Zeit der Vorkriegsjahre.

Gedacht für den Einsatz im gesamten Alpenraum und das Leben unter extremen Bedingungen, ordnet sich die leichte, mobile Struktur mit ihrem Metallrahmen um eine Mittelachse, bedeckt von einem flachen Schirmdach. Zwölf Speichen stützen die Struktur, verkleidet mit leicht anzubringenden Alu-Paneelen. Verstellbare Metallpfosten garantieren Stabilität auch in steilem, unebenmäßigem Gelände; Bullaugenfenster leiten Tageslicht ins Innere des Designerbiwaks. Erstaunliches Detail am Rande: Sowohl die antarktische Forschungsstation Concordia Station, fertiggestellt 2002, als auch die Mars Society Desert Research Station von 2011 orientierten sich an diesem frühen Vorläufer.

Acht Schlafplätze

Innen ist das knapp vier mal vier Meter umfassende Tonnenbiwak komplett mit Nadelholz ausgekleidet, was für eine heimelige Atmosphäre sorgt. Acht Leute finden hier Platz zum Schlafen, Sitzen und Leben. Der Clou: Bei aller Reduziertheit an Raum und Inventar besitzt die Hütte doch alle nötigen Einrichtungen - Perriand sah stets eine besondere Herausforderung darin, begrenzten Wohnraum funktionell einzurichten. Das ausgefeilte Arrangement der Ausstattung zeigt die hohe Kunst der beiden Planer: Die Tür öffnet sich in einen kleinen Raum mit vier Singlebetten, von dem eine Leiter ins darüber liegende Halbgeschoß mit zwei Doppelbetten führt. Der Ofen, strategisch um den mittleren Stützpfeiler herum installiert, nimmt kaum Platz weg, während er den gesamten Raum beheizt. Die Schlafplätze lassen sich mittels Lederriemen hochklappen und fungieren tagsüber als Sitze. Die exakt bemessene Miniküche besteht aus einem Regal, einem Campingkocher sowie einem Waschbassin aus Stahl, in dem man Schnee schmelzen kann. Auch für Rucksack und Ski gibt es Vorrichtungen. So ist jedes Möbel in sich ein Meisterwerk, ein Ausdruck von Einfachheit und Funktionalität. Bleibt abzuwarten, wann die tolle Tonne - bisher nur inhouse oder im urbanen Umfeld ausgestellt - sozusagen ausgewildert wird und im angestammten Lebensraum, in den Felsflanken alpiner Regionen, den Tauglichkeitsbeweis erbringt. Ansonsten würde das Ding freilich auch als Gartenhütte die Nachbarn ganz schön staunen lassen. (Franziska Horn, Rondo, DER STANDARD, 21.12.2012)