Barack Obama konnte die Tränen nicht zurückhalten. So wie jeder, der sich vorstellt, an der Bahre sechsjähriger Kinder zu stehen, die von einem Geistesgestörten mit Kriegswaffen niedergemetzelt wurden.

Präsident Obama sagte auch vage, das könne nicht so weitergehen. Sicher, in seiner Amtszeit hatte er bereits drei ähnliche Massaker zu betrauern. Was er genau tun wird, weiß er aber nicht, denn er hat nicht nur eine Mehrheit im Kongress gegen sich, sondern auch die der Amerikaner, die von ihren Schießeisen nicht lassen wollen.

Schusswaffen sind Teil der amerikanischen Psyche und Folklore. Die Nation hängt noch im 21. Jahrhundert Mythen aus der Zeit des Unabhängigkeitskrieges und der Eroberung des Landes nach. Entgegen allen Statistiken glaubt die Mehrheit, mit der Waffe im Haus (oder in der Schule, auf dem Campus, im Restaurant, in der U-Bahn, auf dem Highway) könne man sich gegen Verbrecher schützen. Um die 90 Prozent aller Waffen im Haus werden aber nicht gegen Räuber und Mörder eingesetzt, sondern gegen eigene Familienmitglieder bzw. in immer kürzeren Abständen von Geistesgestörten im öffentlichen Raum gegen jeden, der gerade da ist.

In jedem Land der Welt ist ein bestimmter Anteil der Bevölkerung geistes-und verhaltensgestört. In den USA drückt man diesem Prozentsatz aber Schnellfeuergewehre mit 100-Patronen-Magazinen in die Hand. Die Waffenverrückten sagen, das wäre alles nicht passiert, hätten die Lehrer Schusswaffen gehabt. Ja, warum nicht auch die Erstklässler?

Die mit "freedom" begründete Waffenverrücktheit der Amerikaner ist Teil eines nationalen Realitätsverweigerungssyndroms. Sie glauben immer noch, "the greatest nation on earth" zu sein und negieren Dritte-Welt-Zustände bei der Kindersterblichkeit, der Bildung, der Infrastruktur oder der Armutsrate.

Obama selbst kam in seinem ersten Wahlkampf in Schwierigkeiten, als er ungeschützt etwas von den deklassierten Unterschicht-Weißen sagte, die "sich an ihre Gewehre und die Religion klammern".

Die Waffenverrücktheit wurden in den letzten zehn, zwölf Jahren durch einen allgemeinen Ruck zur durchgeknallten Rechten gefördert. Unter Bill Clinton wurden die Schnellfeuerwaffen verboten. Das wurde unter George W. Bush wieder aufgehoben, gleichzeitig gerieten weite Teile der Politik und der öffentlichen Meinung in Geiselhaft der Waffenlobby und der rechter Fundamentalisten. Obama hat sich bisher nicht mit denen angelegt. Er scheut harte Auseinandersetzungen.

Dennoch sind in den USA die Voraussetzungen für eine Gegenbewegung da. Das Land ist immer noch ein gutes Biotop für einen Bürgersinn, der sich einfach selbst ermächtigt. US-Kommentatoren weisen darauf hin, dass eine Mutter, die ihre Kinder durch einen betrunkenen Autofahrer verloren hat, mit einer Bürgerinitiative unter dem konservativen Ronald Reagan strenge Gesetze durchboxte. Die Bürger selbst müssen in einem langen, zähen Kampf die Feigheit der Politik überwinden. (Hans Rauscher, DER STANDARD, 19.12.2012)