Ihren Hunger kann Anna modulieren. Wie sie das macht, schildert sie in minutiösen Monologen, in denen es um die Dynamik von Ess-Kotz-Orgien und die Befriedigung daran geht.

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Wer Krankheit verstehen will, sollte manchmal weniger Sachbücher als eher Romane lesen. Als "Bulimie-Roman" wurde Sofi Oksanens Erstlingswerk, das erst kürzlich auf Deutsch erschienen ist, im Spiegel bezeichnet. Obgleich: In "Stalins Kühe" geht es um viele substanzielle Dinge, allen voran um Identität.

Die Protagonistin Anna wächst als Tochter einer Estin und eines Finnen inmitten des Ost-West-Konfliktes der 70er-Jahre auf. Die Mutter schämt sich im Westen ihrer estnischen Herkunft, gibt sich auf Besuchen zu Hause aber als glühende Patriotin. Die Angst, sowjetische Spione könnten sie verfolgen, prägen auch ihre Tochter, für die der nie anwesende Vater keine Hilfe bieten kann.

In dieser gefühlstechnischen Instabilität findet Anna eine Domäne, die sie ganz und gar in Griff zu haben glaubt. Und das ist Essen. Ihren Hunger kann sie modulieren, und wie sie das macht, schildert sie in minutiösen Monologen, in denen es um die Dynamik von Ess-Kotz-Orgien und die Befriedigung daran geht. Der Leser erfährt, welche Lebensmittel warum kombiniert werden und wie es Anna gelingt, ihre Essstörungen zu verbergen.

Oksanen ist eine grandiose und schonungslose Erzählerin. Indem sie Einblicke in menschliche Abgründe gewährt, liefert sie auch ein Stück Zeitgeschichte: den Konflikt zwischen Estland, Russland und die Ignoranz, die der Westen dafür aufbrachte. All das vereint sich in Anna, ihre Krankheit ist Sinnbild einer Epoche, ein Identitätskonflikt. (pok, DER STANDARD, 17.12.2012)