Nach zwölf Jahren als Präsident, Regierungschef und nun wieder als Präsident an der Macht hat der 60-jährige Wladimir Putin vor knapp einer Woche im Großen Kremlpalast eine merkwürdige Mischmasch-Rede ohne neue Ideen und ohne Zukunftsperspektiven gehalten. Statt der Präsentation eines klaren politischen oder wirtschaftlichen Programms wiederholte Putin altbekannte Gemeinplätze, Aufrufe und Mahnungen über die Notwendigkeit von Reformen in der Infrastruktur und im Bildungssystem, der Dezentralisierung der Verwaltung und der Abkehr von der Rohstoffabhängigkeit.

Alle ernsthaften Beobachter sind sich einig, dass die Machtposition Putins derzeit ungefährdet ist. Im Gegensatz zu den Massenprotesten vor einem Jahr stellen die Soziologen des Lewada-Meinungsforschungsinstitutes fest: Die Russen sind ermüdet von der Staatsmacht, von Putin, von den Demonstrationen und von der Opposition. Die offensichtliche Schwäche der gespaltenen Opposition ermuntert indessen den Machtapparat, die mutigsten Aktivisten der Zivilgesellschaft (zum Beispiel die Blogger Alexej Nawalny und Sergej Udalzow) nach Demonstrationen zu verhaften, zu kriminalisieren und mithilfe des neuen Agentengesetzes und mit dem verschärften Gesetz über Hochverrat als "fünfte Kolonne" des Auslandes zu verunglimpfen.

Statt kohärenten Reformprojekten beschwor der Staatschef die nationale Identität und Einheit, Patriotismus und Verantwortung. Er beklagte den moralischen Zerfall und vermisste sogar Barmherzigkeit und Mitgefühl. Um dem dramatischen Bevölkerungsrückgang Einhalt zu gebieten, soll der Mutterkult hochgehalten werden. Putins Rezept: Eine russische Familie sollte künftig drei Kinder haben. Darüber hinaus strebt Putin einen der Plätze unter den 20 unternehmerfreundlichsten Ländern an. Derzeit liegt Russland allerdings auf Platz 112. Nicht zuletzt deshalb, weil in der Ära Putins Russland laut dem jüngsten Transparency-Index der Korruption auf dem stabilen 133. Rang unter den 174 untersuchten Staaten gelandet ist.

Die Mischung aus Reformrhetorik und Mutterkult, nationalen Phrasen und Bekenntnissen zu Transparenz und Volksnähe in der Bürokratie verpufft angesichts der wachsenden Kluft zwischen Staat und Volk. Auch Putins Rückhalt in der Bevölkerung wird schwächer. So soll zwischen März und November dieses Jahres das Vertrauen zu ihm (laut dem Lewada-Zentrum) von 44 Prozent auf 34 Prozent gesunken sein. Angesichts der wirtschaftlichen Stagnation, des schlechten Investitionsklimas und der Enttäuschung über die ausgebliebenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Reformmaßnahmen ist die Höhe des Kapitalabflusses in diesem Jahr - auf 75 Milliarden Dollar geschätzt - keineswegs überraschend. Laut dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" berichtet der Bundesnachrichtendienst von 21 Milliarden Euro russischen Fluchtgelds allein auf Konten in Zypern.

Statt der vor 20 Jahren erhofften Entwicklung in Richtung eines offenen und starken, modernen und liberalen Russlands ist ein Staat entstanden, in dem unter dem "System Putin" laut Beobachtern eine kleine Elite nach dem Prinzip handle, Macht in Geld und Geld in Macht umzuwandeln. (Paul Lendvai, DER STANDARD, 18.12.2012)