Weihnachten, Ostern, Pfingsten, im Sommer sowieso: Jahrzehntelang machten sich die Gastarbeiter in den Haupturlaubszeiten gleichzeitig auf den Weg zurück in die "alte Heimat". Vollbepackt und -beladen, überbelegt. Die Priorität: "nach Hause", so schnell und billig wie möglich. Da gehörte es beispielsweise dazu, mehrere Tage nonstop durchzufahren, kaum zu rasten. Autoströme aus ganz Europa konzentrierten sich auf der Strecke zwischen München und Istanbul, in der Steiermark kam es zu Rekordstaus, endzeitlichem Verkehrschaos und tragischen Unfällen. 

Die Gastarbeiter-Idee - eines der großen Missverständnisse der europäischen Nachkriegszeit, könnte man argumentieren - hat nicht nur für große Umwälzungen in Gesellschaft und Politik gesorgt, sondern auch den Verkehr und die europäische Infrastruktur nachhaltig verändert. Man möchte fast sagen: traumatisiert. 

Foto: gastarbeiterroute.com

Auf der Strecke zwischen München und Istanbul über Österreich, Jugoslawien und Bulgarien rollen in den 60er, 70er und 80er Jahren Millionen Fahrzeuge - Autos und Lastwägen - gleichzeitig gegen Süden, oft nur langsam. Staus von mehreren Dutzend Kilometern und zehn bis 30 Stunden Wartezeit an Grenzübergängen sind keine Seltenheit.

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Die Wege sind für den vorhersehbaren Verkehr nicht vorbereitet, die Behörden mit dem gesellschaftlichen Experiment Gastarbeit und der unweigerlichen Entwicklung des Gastarbeitertransits überfordert. Viele Maßnahmen scheitern grundsätzlich an der Masse der Verkehrsteilnehmer: Strafen für unachtsame oder schlecht ausgestattete Fahrer bleiben wenig wirksam, rigorose Kontrollen verlangsamen das Fortkommen noch weiter. Kolonnenverkehr gibt es auf der Gastarbeiterroute auch beim WC - hier auf einer Raststätte in Kalwang im steirischen Liesingtal.

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Gruselgeschichten über die neue Seidenstraße gibt es zuhauf: Von Fahrern, die einen Ziegelstein aufs Gaspedal legen oder sich von Beifahrern regelmäßig mit kaltem Wasser anspritzen lassen, um nicht einzuschlafen. Von Autos, die tagelang mit mehr als doppelt so vielen Insassen unterwegs sind wie vorgesehen, von klapprigen Fahrzeugen in desaströsem Zustand.

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Anfang der 70er schießen die Unfallstatistiken in die Höhe. Alleine in der Steiermark werden mehr Unfalltote und -verletzte verzeichnet als heute in ganz Österreich. Warnschilder sollen die übermüdeten Fahrer zu Vorsicht bewegen.

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Frontalzusammenstöße sind wegen blank liegender Nerven, Sekundenschlafs und Überholmanövern regelmäßige Tragödien. "Todes- und Mörderstrecke", "Blut und Blech" und "Massenmord" titelt der österreichische Boulevard. 1975 stirbt ÖVP-Chef Karl Schleinzer bei einem Frontalzusammenstoß mit einem Sattelschlepper in der Nähe von Bruck an der Mur. Im Bild ein Wrack aus der Leobener Umfahrung, ca. 1974.

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Je mehr Autos, desto mehr Zwischen- und Unfälle - vielleicht ist das die einfache Erklärung für die Häufung der Unglücke auf der Gastarbeiterroute. Andernfalls müsste man den "Gastländern" eine weitere Fehleinschätzung im Zusammenhang mit dem Gastarbeit-Experiment anlasten, die sogar Menschenleben gekostet hat.

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Einige verlassene Raststätten stehen noch an der alten Gastarbeiterroute. Diese zwischen Seiz und Kammern diente in Gastarbeiterrouten-Stoßzeiten vielleicht weniger dem Auftanken und Erfrischen, als den Österreichern lieb gewesen wäre: Die Gastarbeiter wollten möglichst kostenschonend nach Hause. Benzin war sowohl in Deutschland als auch in der Heimat billiger, und Proviant gab es meist selbst gemachten. Bald wurden in Österreich kritische (und wegen der Migrationsthematik auch populistische) Stimmen laut, die wichtige Transitroute bringe dem Land nichts als Ärger: Gefahr, Kosten für Exekutive und Infrastruktur, Müll.

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Dieses (wohl von Anrainern selbst erstellte) "Verkehrsschild" befand sich auf einem ehemaligen Parkplatz bei Liezen im steirischen Ennstal.

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Wegen der Belastung, die die Gastarbeiterroute für die angrenzenden Gemeinden und Städte bedeutete, kam es auch zu Protesten - Sitzstreiks beispielsweise. Die Anrainer beschwerten sich über Lärm, Gestank, Müll und Todesgefahr beim Überqueren der Straße und versuchten durch Blockaden Umfahrungen zu erzwingen - zum Beispiel in Wildon 1974 und in Peggau 1977 (Bild).

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Zwar gab es auch Möglichkeiten, per Bus, Fähre oder Flugzeug "nach Hause" zu kommen. Doch das weitgehende Meiden dieser Transportmittel wird mit dem Statussymbol Auto in Zusammenhang gebracht: In der "alten Heimat" sei eben jener hoch angesehen, der erschöpft, aber voll beladen mit mehr oder weniger exotischen Gütern aus dem "Gastland" in die Heimatstadt oder das Heimatdorf einrollt.

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Das Gastarbeiterrouten-Problem löst sich in den 90ern "von selbst". Man möchte sagen, ein Blutvergießen weicht dem nächsten, denn der Beginn des Jugoslawienkriegs macht ein Passieren des jugoslawischen Streckenabschnitt, des Autoputs (serbokroatisch für Autobahn, die damals noch keine war), schwierig, die direkte Autoverbindung zum Balkan und in die Türkei ist gekappt. Hier zu sehen ist der Autoput vor Belgrad, links in den 70ern, rechts ausgebaut in den 90ern.

Mehr Informationen und Fotos zur Gastarbeiterroute

gastarbajteri.at

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