In der demokratischen Lernwerkstätte Ägypten kommt niemand auf die Idee, dass Wahlresultate eigentlich erst nach Wahlabschluss zu veröffentlichen sind (das war schon bei den Parlamentswahlen im vergangenen Winter so). Deshalb weiß man bereits nach der ersten Runde des Verfassungsreferendums so ungefähr, wohin der Hase läuft - auch wenn zwischen dem Ja- und dem Nein-Lager die ersten Streitereien um Auszählungsergebnisse bereits entbrannt sind.

Nicht völlig überraschend bewegen sich die ägyptischen Wähler und Wählerinnen ungefähr auf den Spuren der Präsidentschaftswahlen im Juni. Damals gewann der antiislamistische Kandidat der Armee, Ahmed Shafiq, ganz überzeugend Kairo und ein paar urbane Zentren - das Rennen wurde jedoch in den ländlichen Gebieten entschieden, wo das Wahlvolk noch das tut, was ihm in der Moschee angeschafft wird.

In der zweiten Wahlrunde kommen hauptsächlich solche ruralen Gebiete zum Zug. Es dürfte demnach für die Ablehner der Verfassung nicht leicht werden, das Steuer noch herumzureißen. Wenn die Islamisten jedoch noch einen Funken politischen Verstand haben, dann werden sie anerkennen, dass in absoluten Zahlen gesehen ihr Sieg nicht überwältigend ausfällt. Die Gegner der Verfassung können nicht so einfach vom Tisch gewischt werden, von einer nationalen Versöhnung hängt das Wohl Ägyptens ab. (Gudrun Harrer, DER STANDARD, 17.12.2012)