Regisseur Kimoulis: "Neue sozialpolitische Situation muss uns dazu bringen, neue Formen des sozialen Widerstands zu finden."

Foto: Markus Bernath

Er sieht schon in diesem Monat die große soziale Explosion in Griechenland kommen. Giorgos Kimoulis (56), Regisseur und mehrfach ausgezeichneter Schauspieler, schlägt in einem Interview in Athen den Bogen vom wirtschaftsliberalisierten Menschen zur Bühne und den "neuen Waffen" des sozialen Widerstands. "Das Theater versucht, dem Menschen die Angst zu nehmen", sagt er. Kimoulis gründete 1986 das "Zeitgenössische Theater von Athen“ und 1996 eine Schauspielschule. Zu seinem Repertoire gehören vor allem Shakespeare und antike Dramen. 2012 ging er mit einer Adaption von Thomas Bernhards „Einfach kompliziert" auf Tournee durch Griechenland:

STANDARD: Wie erleben Sie die Krise in Griechenland, die nun seit drei Jahren geht?

Giorgos Kimoulis: Der Künstler ist nicht anders als die übrigen Bürger. Die Kunst ist Teil des sozialen Wesens einer Gesellschaft und wird davon beeinflusst. Wir haben auf der wirtschaftlichen Ebene dieselben Probleme, und dann kommt hinzu, dass das Theater, leider, als eine Art Luxus angesehen wird. Die Mittelklasse hat kein Geld mehr, auch das schwarze Geld ist ihr ausgegangen. Das sind die Leute, die ins Theater gehen, und deshalb sind die Theater jetzt nicht voll. Das Schlimmste ist die extreme Depression, die wir nun sehen, und die hat einen tragischen Ausgang: die politische und gesellschaftliche Gleichgültigkeit.

STANDARD: Eine Gleichgültigkeit, die in Griechenland schon vor dem Ausbruch der Finanzkrise herrschte?

Kimoulis: Die Gleichgültigkeit des modernen Europäers generell, sein Individualismus. Der moderne Mensch verhält sich autistisch. Er lebt einen narzisstischen Nihilismus, der ein Produkt des liberalen Systems ist.

STANDARD: Sie sagen autistisch, aber die Griechen lehnen sich immer noch auf und gehen auf die Straßen.

Kimoulis: Demonstrieren ist das Mindeste, das in Griechenland passieren könnte. Doch 150.000, 200.000 Leute sind nichts. Diese Gleichgültigkeit und der Individualismus haben dem modernen Menschen eine unpolitische, nicht-ideologische Basis gegeben. Wenn 150.000 Leute auf die Straße gehen ohne ein gemeinsames Ziel, erreichen sie nichts.

STANDARD: Sie haben ja ein Ziel - das Ende der Sparmaßnahmen.

Kimoulis: Ich gehöre zwar zur alten Linken, aber jetzt hat sich die Situation geändert. Wir haben nicht nur die Demonstration als eine Waffe. Es gibt auch andere Wege. Die neue sozialpolitische Situation muss uns dazu bringen, neue Formen des sozialen Widerstands zu finden. Waffen, die nicht nur Streik und Protest sind. Dafür braucht man Disziplin. Der moderne Mensch muss das Spontane mit der Disziplin kombinieren, er muss individualistisch sozial sein, ohne dass dies ein Widerspruch wäre. Bis jetzt sehen wir nur diese Spontaneität mit den Demonstrationen.

STANDARD: Welche Aufgabe hat in dieser Krisensituation das Theater?

Kimoulis: Das Theater versucht dem Menschen, die Angst zu nehmen, zusammen mit anderen Menschen zu sein. Das Theater ist nicht die Kunst des Einen, es ist nicht Malerei, Skulptur und auch nicht Schreiben. Damit man im Theater ein künstlerisches Ergebnis hat, braucht man mindestens zwei Personen. Es mag zum Beispiel sein, dass Gert Voss und Ignaz Kirchner sich nicht mögen, aber das hindert sie nicht, im Burgtheater perfekt zusammenzuarbeiten. Das erste, was das Theater jemanden lehrt, ist das Zusammensein.

STANDARD: Im Oktober belästigten Mitglieder der Faschisten-Partei Chrysi Avgi Theaterbesucher und erreichten am Ende, dass ein Stück – Corpus Christi von Terence McNally – abgesetzt wurde. Was denken Sie darüber?

Kimoulis: Das war nur ein einzelnes Ereignis. Das ist nicht das Grundproblem. Das Grundproblem ist der Aufstieg des Faschismus in Europa, die Formierung neonazistischer Bewegungen. Dieser Nazismus basiert auf drei Punkten: der Verarmung der Bevölkerung, dem Problem der Immigration, schließlich der Ungebildetheit, die das Gedächtnis löscht. Die Linke aber fühlt sich schuldig und besiegt. Sie hat noch nicht den Weg gefunden, um sich vom Fall der Mauer zu erholen.

STANDARD: Alexis Tsipras, der linksgerichtete Oppositionsführer, macht nicht den Eindruck, dass er sich schuldig fühlt oder schon verloren hat.

Kimoulis: Alexis Tsipras gehört zu einer anderen Generation. Er hat nicht die Niederlage der Linke erlebt, wie wir Sie erlebt haben. Darum ist er der einzige, der die Linke von ihrem Defätismus befreien kann.Ob er zunächst in der Lage ist, etwas Bedeutsameres zu schaffen, das liegt in seiner Hand und in der seiner Partei. Wir müssen ihn – von unserer Seite aus – vorläufig unterstützen. So denke ich. Obwohl ich weiß, dass viele ihn für einen neuen Kerenski halten (russischer Regierungschef zwischen Februar- und Oktoberrevolution 1917, Anm.).

STANDARD: Wie wird es in Griechenland in den nächsten Monaten weitergehen?

Kimoulis: Ich fürchte, dass es im Dezember zu einer großen Explosion kommt. So wie es im Dezember 2008 nach den tödlichen Schüssen auf den Schüler Alexandros Grigoropoulos auf den Straßen gebrannt hat – ohne eine gemeinsame ideologische-politische Basis. Aber auf der einzigen Grundlage eines emotionalen Hooliganismus, der an sich nicht unbedingt schlecht sein muss. Ich bevorzuge ihn nicht. Aber sogar das ist eine Reaktion. Ich weiß, der Gedanke, wie wir dieses System von innen kaputt machen werden, ist ein bisschen trotzkistisch. Aber ich glaube, es gibt keine andere Lösung.

STANDARD: Weitersparen und auf Abbau der Schulden und die nächsten Kreditraten warten ist keine Lösung?

Kimoulis: Wir unterhalten uns hier als vernünftige Leute, nicht wahr? Die Schulden können nicht bezahlt werden. Wir wissen das alle, oder wir sollten es alle wissen. Die Tranche, auf die wir warten, wird nicht in den griechischen Markt gelangen. Der größte Teil ist für die Zinsen und die Schulden, ein anderer, großer Teil für die Banken, und es bleiben ein paar Brösel für das, was der Staat bestimmten Gruppen schuldet, die er versorgt. Das heißt, der einfache Bürger wird in derselben Lage bleiben. Und das wiederholt sich dauernd. Es ist klar, dass die Lösung in der Rückkehr zur Drachme liegt. Kein Politiker will diese Verantwortung übernehmen. Wir spielen den Ball ins Aus, wir verzögern alles, wir warten, dass Portugal, Italien oder Spanien in dieselbe Situation wie wir kommen; dass Deutschland und die Staaten im Norden müde werden. Die EU wird sich dann in zwei Teile spalten und auflösen. Und wir warten einfach bis dahin. (Markus Bernath/derStandard.at, 6.12.2012)