Markus Reiter, Geschäftsführer des neunerhauses, setzt auf die Eigenverantwortung von wohnungslosen Personen.

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Im Moment gibt es viele obdachlose Menschen, die jahrelang in Notquartieren schlafen müssen. Eigentlich sollten sie dort aber nur ein paar Tage sein.

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Seit 13 Jahren engagiert sich der Verein neunerhaus für wohnungslose Menschen in Wien. Im Moment werden in Wien rund 9.000 obdachlose Personen betreut. Die Zahl hat sich seit 2006 verdoppelt.

Bei Housing First, einem Reformansatz aus dem amerikanischen, britische und skandinavischen Raum, sollen Wohnungslose so schnell wie möglich wieder eigenverantwortlich in einer eigenen Wohnung leben. Laut Markus Reiter, Geschäftsführer des neunerhauses, hätten Erfahrungen gezeigt, dass durch die zwanglose Betreuung deutlich weniger den Kontakt zu ihrem Sozialarbeiter abbrechen. Seit September läuft das Projekt in Wien als Pilotversuch.

derStandard.at: Hat sich das typische Bild des Obdachlosen in den vergangenen Jahren verändert?

Reiter: Neu ist, dass Wohnungslose Menschen wie Du und Ich sind. Ihr Einkommen liegt zwar im unteren Bereich und sie haben zumeist geringere Bildungschancen, aber man sieht ihnen die Wohnungslosigkeit nicht an.

Der starke Anstieg von obdach- und wohnungslosen Menschen, den wir seit einigen Jahren beobachten könne, hängt sicher mit der Wirtschaftskrise zusammen. Wenn heute in einem Haushalt ein Einkommen wegfällt, kann das ganz leicht passieren.

derStandard.at: Wodurch geraten Menschen am ehesten in diese Situation?

Reiter: Die Menschen werden durch Arbeitslosigkeit, Scheidung oder Krankheit obdachlos, sie entsprechen nicht dem klassischen Sandlerbild von der Straße. Es geht um Menschen, die aus der Mitte der Gesellschaft delogiert werden und das sind täglich Dutzende. Darum ist es wichtig, die Menschen schnell zu erreichen, sie nicht auf der Straße verwahrlosen zu lassen, um danach zu versuchen, sie mühsam aufzuklauben.

derStandard.at: Wo sehen Sie im Moment Missstände in der Betreuung von wohnungslosen Menschen?

Reiter: Ich finde es nicht gut, ein Heim nach dem anderen zu bauen. Dabei besteht die Gefahr, dass Hospitalisierungseffekte entstehen. Wir haben Leute, die schon über ein Jahr in Nachtquartieren untergebracht sind. Dort sollten sie eigentlich nur ein paar Tage sein, weil Nachtquartiere eine Notmaßnahme sind. In Übergangswohnhäusern sind die Leute zum Teil drei bis vier Jahre, obwohl sie nur zwei Jahre dort verbringen sollten.

derStandard.at: Welche Konzepte wären geeignet, um die Situation zu verbessern?

Reiter: Seit September läuft in Wien das Pilotprojekt Housing First. Dabei geht es darum, wohnungslose Menschen schnell in eine eigene Wohnung zu bringen, wo sie dann aber weiterhin betreut werden.

Bei Housing First schließen unsere Klienten einen eigenen Mietvertrag mit dem Hausvermieter ab. Auch die Mietkosten sollen sie  selbst bezahlen. Die Sozialorganisationen werden dann in Zukunft nicht Vermieter und Betreuer sein, sondern nur noch Betreuer. Wir stehen aber hinter dem Klienten und halten auch Kontakt mit dem Vermieter.

derStandard.at: Was passiert, wenn die Miete nicht bezahlt werden kann?

Reiter: Es gibt eine Vereinbarung mit dem Klienten, dass wir von der Hausverwaltung informiert werden dürfen, wenn er einen Zahlungsverzug hat. Wenn es doch einen Zahlungsverzug gibt, haben die Hausverwaltungen nur die Möglichkeit, Briefe zu schreiben. Wir aber können dann direkt bei dem Bewohner nachfragen, wo das Problem liegt und wie wir ihn unterstützen können.

derStandard.at: Was ist daran anders als im derzeitigen Modell der Wohnungslosenhilfe?

Reiter: Im Moment haben wir ein Stufensystem: Viele der ehemals wohnungslosen Menschen werden von einem Nachtquartier in ein Übergangswohnen geführt. Von dort kommen viele dann in betreutes Wohnen und erst dann bekommen die meisten eine eigene Wohnung. Das sind viele Umbrüche und durch diese Wohnortswechsel ist es für die Menschen schwierig, soziale Beziehungen aufzubauen und sich in ihrer Umgebung zurecht zu finden.

derStandard.at: Welche Nachteile hat es, wenn Menschen nicht gleich am Anfang eigenverantwortlich leben können?

Reiter: Wenn der Betreuer zugleich auch der Vermieter ist, kann viel stärker mit Zwang und Druck gearbeitet werden. Wenn der Mensch eine eigene Wohnung hat, dann "gehört" ihm diese auch. Der Mietvertrag ist dann seine Sache, man kann ihn dann auch nicht zu einer Betreuung zwingen.

derStandard.at: Wie viele Wohnungen stehen im Moment für das Projekt zur Verfügung?

Reiter: Im Pilotprojekt bekommen wir vom Fonds Soziales Wien die Förderung für die Betreuung von 50 Wohnungen finanziert. Wir sind gerade dabei, diese Wohnungen zu finden. In einige sind schon Bewohner eingezogen. Das Projekt läuft bis 2014. Danach wird geprüft, ob es nicht ein Reformmodell für ganz Wien sein kann. Für die kommenden drei Jahre brauchen wir aber mindestens 100 Wohnungen.

derStandard.at: Welche Menschen sind die Zielgruppe für dieses Projekt?

Reiter: Housing First ist ein Programm, das auch für die schwierigsten Fälle geeignet ist. Genauso aber auch für Menschen, die kurzfristig wohnungslos geworden sind. Im Wesentlichen kann man allen wohnungslosen Menschen zumuten und zutrauen, dass sie wieder in einer eigenen Mietwohnung leben können.

derStandard.at: Gibt es auch Menschen, für die dieses Konzept nicht geeignet ist?

Reiter: Natürlich gibt es Ausnahmen. Zum Beispiel Menschen, die aufgrund ihrer körperlichen und psychischen Verfassung nicht mehr eigenverantwortlich allein in einer Wohnung leben können und im Alltag auf Hilfe angewiesen sind. Wenn das Modell funktioniert, gehen wir davon aus, dass in Zukunft 80 Prozent der wohnungslosen Personen sofort in einer eigenen Wohnung über "Housing First" betreut werden können.

derStandard.at: Wie schwierig ist die Wohnungssuche angesichts der angespannten Lage am Wohnungsmarkt?

Reiter: Die aktuelle Debatte im Wohnungsbereich hat gezeigt, dass leistbares Wohnen fehlt. Vor allem für unsere Zielgruppe sind die Barrieren am Wohnungsmarkt viel zu hoch. Derzeit ist der Wohnungsmarkt - mit Ausnahme des Gemeindebaus - für unsere Leute schwer oder kaum zugänglich.

Was Mietpreis- und Qualitätsentwicklung betrifft schaut es am Markt derzeit trist aus. Zudem übersteigt die Nachfrage das Angebot massiv. Wir suchen daher die Wohnungen nicht am freien Markt, sondern versuchen, direkt mit den privaten und gemeinnützigen Eigentümern Kooperationen zu vereinbaren.

derStandard.at: Wie kann man dennoch sicherstellen, dass die Wohnungen aufgetrieben werden können?

Reiter: Ich baue darauf, dass die Wohnungswirtschaft soziale Verantwortung übernimmt. Es gibt schon Bauträger - gemeinnützige und private - die uns zugesagt haben. Langfristig bräuchte es eine eigene Vermittlungsstelle für Menschen, die aus der Wohnungslosenhilfe betreut werden. Das gleiche gilt auch für die Behindertenhilfe, die ebenfalls Probleme hat, Wohnraum zu finden. Dazu bräuchte es aber eine politische Entscheidung.

derStandard.at: Wo liegt Ihre größte Herausforderung?

Reiter: Für den Klienten eine Finanzierung zu organisieren, damit er die Kaution bezahlen kann. Beim geförderten Wohnbau ist die Situation durch die erforderlichen Eigenmittel noch schwieriger. Diese betragen derzeit im Regelfall 500 Euro pro Quadratmeter. Bei einer Wohnung von 40 bis 50 Quadratmeter sind das 25.000 Euro.

derStandard.at: Was müsste sich konkret ändern?

Reiter: Es braucht im geförderten Wohnbau mehr Angebote für eine immer größer werdende Gruppe von Menschen, die keine Eigenmittel haben und sich maximal eine Kaution leisten können. Dafür braucht man kleinere, kompaktere und bedarfsgerechtere Wohnungen.

Außerdem müssten auch die ausfinanzierten Altbauwohnungen im geförderten Bereich zugänglich gemacht werden. Da gibt es noch günstige Wohnungen für 200 bis 250 Euro, die ich gerne für unsere Leute hätte. Wenn wir für die Leute am Markt schauen, gibt es die nicht.

derStandard.at: Was müsste sich in der Wohnungswirtschaft insgesamt ändern?

Reiter: Die ganze Wohnungswirtschaft muss weggehen davon, immer nur Rendite machen zu wollen. Ich ärgere mich auch, wenn die Politik nur über den Mietpreis und den Richtwert diskutiert. Was reguliert gehört, ist eine Steuerung des Angebots an Wohnraum und nicht nur der Preis.

Da geht es um eine Grundversorgung, Wohnen gehört zu den Menschenrechten und da kann sich der private Markt nicht sagen: "Nein, da geht es nur um Rendite." Der Wohnungsmarkt kann nicht der Ersatz dafür sein, dass jahrelang am Finanzmarkt spekuliert wurde. Jetzt wird das ganze Geld auf den Immobilienmarkt geschmissen und dadurch eine massive Teuerung geschaffen. (Elisabeth Mittendorfer, derStandard.at, 7.12.2012)