Im Bauch des Haus-, Hof- und Staatsarchivs am Minoritenplatz 1, wo Karl Hauck unter anderem sein Unwesen trieb.

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Die Berliner Morgenpost vom 18. November 1925 widmete dem Archivalienfetischisten  Karl Hauck einen ausführlichen Bericht.

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Mario Wimmer: "Archivkörper. Eine Geschichte historischer Einbildungskraft". Konstanz University Press, 335 S, € 35,90.

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Vor allem aber entwickelt er rund um diese Episode eine originelle Theorie des Archivs und der historischen Einbildungskraft.

Orgasmus. Das war das Wort, das Mario Wimmer kurz innehalten ließ, als er Ausgaben der Archivalischen Zeitschrift aus den 1920er-Jahren nach Logiken bürokratischer Organismen und ähnlichen abstrakten Fragen durchsuchte. Der Wiener Historiker, der zurzeit an der ETH Zürich forscht, hatte sich tatsächlich nicht verlesen, und der "Orgasmus" war auch kein Druckfehler.

Wimmer war nämlich auf einen zeitgenössischen Bericht über den Historiker Karl Hauck gestoßen, den eine äußert seltsame Leidenschaft umtrieb: Der Privatgelehrte hatte eine so ausgeprägte Passion für das Gewesene und Gestorbene entwickelt, dass er tausende Dokumente aus europäischen Archiven - vor allem dem Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv am Minoritenplatz und dem Geheimen Staatsarchiv in Berlin - entwendete und damit seine Lust befriedigte.

Dunkle Leidenschaft

Im Frühjahr 1924 wurde Hauck dann von einem Archivar des Diebstahls überführt und gestand seine dunkle Leidenschaft für alte Handschriften: Dem Untersuchungsrichter erklärte er, wie er beim Anblick alter Handschriften sexuelle Befriedigung finden konnte, was ihn wiederum zum Forschungsobjekt des Berliner Sexualwissenschafters Magnus Hirschfeld werden ließ. Der diagnostizierte eine Form des Fetischismus, die sich aus übersteigerter Sammelwut und einer nekrophilen Neigung zusammensetzte. Modergeruch sei für Hauck "von besonderem Reiz" gewesen.

Fast hundert Jahre nach Hirschfeld nahm sich Mario Wimmer der Causa an, die er auf Nachfrage des Standard nicht als Einzelfall sieht: "Archiv- und Bibliotheksdiebstähle und vergleichbare Fälle von Bibliomanie und Sammelwut gibt es zumindest seit dem 18. Jahrhundert", so Wimmer, "schon im Wörterbuch der Brüder Grimm wird die sogenannte Sammelwut vor allem auf die Leidenschaften der Gelehrten bezogen."

Wimmer hat zur Recherche für seine Untersuchung selbst "etliche Monate in Archiven verbracht", wie er sagt - unter anderem im Landesarchiv Berlin, wo die meisten Akten zu Hauck überliefert sind. "Dokumente zu dem Fall finden sich aber in allen größeren Staatsarchiven, die von den Diebstählen betroffen waren."

Doch dem Historiker und Wissenschaftsforscher geht es in seinem Buch, das kürzlich unter dem Titel Archivkörper erschien, nicht etwa um eine Darstellung solcher Diebstähle, er hat ein ganz anderes Forschungsinteresse: Für ihn ist der Fall Hauck der Ausgangspunkt für eine breit angelegte Untersuchung über einen wenig sichtbaren, aber doch zentralen Ort unserer Gesellschaft: das Archiv.

Archive, Friedhöfe und Museen

Konkret geht er dabei vor allem der Frage nach, wie die Verwaltung von Geschichte in Archiven insbesondere am Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Entstehung einer bestimmten Form von Rationalität und Einbildungskraft zusammenhängen. Archive seien für die Historiker ein wenig wie das Feld für die Ethnologen, sagt Wimmer. "Es ist für uns die Möglichkeit, das andere unserer Gesellschaft, die noch vergegenwärtigbare Vergangenheit, an einem ganz speziellen Ort zu finden."

In diesem Sinn würden die Archive in unserer Gesellschaft eine ähnliche Funktion wie Friedhöfe oder Museen erfüllen. Sie seien aber auch eine Art Korrektiv, zumal die Arbeitsweise der Historiker grundlegend vom Einspruchsrecht der Quellen bestimmt ist.

"Dieser nachvollziehbare Rückbezug auf empirische Überlieferung der Vergangenheit in ihrer ganzen Breite unterscheidet unser Schreiben auch von historischen Romanen oder Erinnerungsliteratur", sagt Wimmer, der im Geschäft der Historiker - zumindest strukturell und der Form nach betrachtet - eine Art von Diebstahl sieht: "Die Arbeit der Forscher in Archiven und Sammlungen ist stets auch eine Form der Aneignung und Rekontextualisierung." (Klaus Taschwer, DER STANDARD, 05.12.2012)