Surreale Momente durchziehen wie böse Traumvorstellungen Joe Wrights Film "Anna Karenina" (Keira Knightley).

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Wien - Beinahe jedes Jahrzehnt der Kinogeschichte hat für Leo Tolstois weltberühmten Roman Anna Karenina eine Verfilmung bereitgestellt. Mit Titelheldinnen wie Greta Garbo (1927), Vivian Leigh (1948), Jacqueline Bisset (1985) oder Sophie Marceau (1997). Das Petersburger Adelsleben in seiner dramatischen Pracht (großer Reichtum, wenig individuelle Freiheit) ist ein allzeit leinwandwirksamer Stoff.

Die mit einem Staatsminister gut, aber herzlich fad verheiratete Anna verliebt sich haltlos in den jungen Grafen Wronski, einen sprühenden Offizier. Die Konsequenzen sind schrecklich: Von der Gesellschaft ausgeschlossen und von Überlebensangst getrieben, nicht zuletzt weil auch das neue Glück seine Risse zeigt, begeht sie Selbstmord.

Joe Wright hat in seiner aktuellen Neuverfilmung den vorangegangenen Opulenz-Schaustücken etwas hinzuzufügen. Als Regisseur der vierfach oscarnominierten Jane-Austen-Adaption Stolz und Vorurteil (2005) hatte er bereits ein Händchen für Kulisse und Ausstattung bewiesen. In Anna Karenina geht er nun über das Genre Kostümfilm hinaus.

Er zeigt das Geschehen in St. Petersburg und Moskau in surrealen Raumanordnungen, die die Trennung von Innen und Außen für obsolet erklären und die Schauplätze der Stadt absurderweise in den Kulissen, dem Schnürboden etc. von Theaterbühnen verorten.

Der Eislaufplatz, auf dem Wronski gierig der in einem Schlitten chauffierten Karenina nachblickt, liegt zum Beispiel mitten im Theaterparkett. Der Schnee reicht dort bis zu den Logen. Tritt jemand durch eine Tür auf der Rückseite der Bühne, so landet er direkt in der russischen Pampa auf dem Landgut von Lewin. Oder: Vertrauliche Gespräche in offensichtlichen Privatgemächern entpuppen sich plötzlich als knapp an der hell erleuchteten Theaterrampe geführt. Das Kinderzimmer von Serjoscha, Anna Kareninas Sohn, ist ohne Umschweife gleich als Guckkastenbühne gebaut.

Gedanken, die Tolstois Gesellschaftsroman entsprechen: Die Figuren haben keinen Rückzugsort, kein intimes Gefühl bleibt verborgen. Das Rampenlicht erfasst alles. Mit dieser in altmodische Theaterkulissen eingesperrten Realität installiert Wright eine Ebene für das Traumhafte der Ereignisse. Der Film behält diese Ebene konsequent bei, ohne in dieser Entscheidung jemals zu festgefahren zu wirken.

Ein Fest für die Requisite

Man ist immer wieder überrascht und gebannt von den absurden szenischen bzw. räumlichen Übergängen oder von Birkenstämmen, die als Hindernis plötzlich im Zimmer stehen. In den die Räume und Zeiten dehnenden langen Kamerafahrten mag man eine Reminiszenz an Alexander Sokurovs Russian Ark erkennen, eine in der Petersburger Eremitage angesiedelte Zeitreise durch Russlands Geschichte; in der schönen Kulissenmalerei und in den prächtigen Requisiten, die manchmal wie in Dioramen arrangiert wirken, eine Verbeugung vor der russischen Theater- und Märchentradition.

Dem Gewicht dieser Ausstattung und ihres theaterhaften Arrangements halten die Schauspieler jederzeit stand. Sämtliche Darsteller wirken im Dickicht ihrer eigentümlichen Haarpracht oder ihrer exquisiten Kopfbedeckung (Mode und Stil sind Dauerbrennerthemen im Roman) um einiges älter, als sie tatsächlich sind.

Oblonski (Matthew Macfadyen) hat sich als bauchiger Karenina-Bruder äußerlich lustig, aber innerlich schuldbewusst im Ehebruch eingenistet; Keira Knightley wendet als Anna ihre anrührende Lebendigkeit allmählich in Panik. Als ihr Gatte entwirft ein kaum wiedererkennbarer Jude Law mit Geheimratsecken und Glaszwicker das Inbild eines staubtrockenen Aristo-Bürokraten. Und mit Aaron Taylor-Johnson als Graf Wronski haben auch die Twens wieder einen neuen Schwarm.  (Margarete Affenzeller, DER STANDARD, 5.12.2012)