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"Ich hab eine andere Allergie", sagt Handke: "Die Frauen." Der Dichter und seine Frau Sophie Semin.

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Leopold Federmair geb. 1957 in Wels, ist österreichischer Schriftsteller und lebt in Japan. Für seine Übersetzungen wurde er 2011 mit dem österr. Staatspreis ausgezeichnet. Im August erschien sein Essayband "Die Apfelbäume von Chaville. Annäherungen an Peter Handke" (Jung-und-Jung-Verlag).

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Aus Anlass des 70. Geburtstages, den Handke am 6. Dezember feiert.

Immer dieselbe Geschichte: Jugoslawien

Als Treffpunkt habe ich mit Handke diesmal Le Gymnase vereinbart, ein Bistro auf dem Boulevard Raspail. Der Boden ist abgetreten, die Ausstattung abgenutzt, kein Vergleich zur Eleganz der berühmten Cafés auf dem nahen Boulevard Montparnasse. Le Gymnase ist einer jener Balkan-Orte, die Handke überall in Europa aufzuspüren pflegt. In gewisser Weise gehört auch Chaville, sein Wohnort in der südlichen Banlieue, dazu. Ich setze mich draußen auf die Terrasse, nach einer Weile kommt Handke mit einem Weinglas und einem Begleiter aus dem Thekenraum. Der Mann an seiner Seite hat einen Rundbauch, er trägt einen Kaiser-Franz-Joseph-Bart und eine Brille mit dicken Gläsern. Er spricht mit starkem slawischem Akzent, lebt seit 45 Jahren in Paris und stammt aus dem Städtchen Görz (Gorice, Gorizia). Handke und er kennen sich aus dem Bistro, seit vielen Jahren ein Stammlokal der in dieser Gegend wohnenden "Jugoslawen" – Slowenen, Serben, Kroaten, "Serbokroaten", sagt der Bildhauer lachend.

Dieselbe Geschichte: Selbst ist der Mann

Handke und ich übersiedeln in eines der Restaurants auf dem Boulevard Montparnasse; seine Frau, die Schauspielerin Sophie Semin, gesellt sich zu uns. Handke sitzt mir gegenüber, so fallen mir unweigerlich die Flickereien und Stickereien am Kragen und an den Ärmeln seines Anzugs auf: Rot auf blauem Hintergrund, nicht gerade dezent, aber zu klein, um wirklich aufzufallen. Ich frage, wer den Anzug ausgebessert – oder verziert – hat. Natürlich sein Träger, der zu Hause den Garten und die Bäume pflegt, abgerissene Knöpfe annäht und sich teilweise von dem ernährt, was er in den umliegenden Wäldern und am Wegrand sammelt. Handke näht und bestickt auch alte, zerrissene T-Shirts, erzählt Sophie nicht ohne Stolz. Wer sie trägt? Alle drei Familienmitglieder, auch Léocadie, die Tochter. "Die halten aber nicht lange, zerreißen gleich wieder", fügt Handke bescheiden hinzu.

Dieselbe Geschichte: Apfelbäume

Drei stehen in seinem Garten. Wenn die Äpfel im Sommer und Herbst fallen, häuft er sie auf im Gras stehenden Holztischen zu Pyramiden. "Er hat sie selbst gepflanzt", sagt Sophie und zählt die übrigen Bäume des Gartens auf: Kirschbaum, Edelkastanie, Nussbaum, ein Birnbaum ("Sehr schwierig, die Birnbäume", sagt Handke), Haselnuss. "Haselnussstauden", winkt er ab, "gibt es da überall in der Umgebung, nicht nur bei mir." Gestern erst habe ich im Klagenfurter Musil-Institut eine Fotokopie des Obstbau-Buchs gesehen, das Handke in Chaville aufbewahrt. Geschrieben hat es sein Onkel Gregor Sivetz, der Bruder seiner Mutter und Taufpate ihres ersten Sohnes, den Handke nicht kennenlernte, weil er, Gregor, nicht aus dem Weltkrieg zurückkehrte. Das Slowenische kann ich nicht lesen, wohl aber die schöne, regelmäßige Handschrift bewundern, die mich an die Kurrentschrift meiner Mutter erinnert, deren Brüder ebenfalls im Krieg gefallen sind. Handkes literarisches Werk ist in gewisser Weise die Fortsetzung dieses Obstbaubuchs, die großen Friedensepen – so das Selbstverständnis des Autors – und die kleinen Epopöen sind Fortsetzungen jener amateurhaften slowenischen Georgica (das zweite Kapitel von Vergils Lehrbuch ist dem Obstbau gewidmet). In Die Wiederholung treibt sich der Held Filip Kobal auf den Spuren seines Bruders in Slowenien herum. Hinter der Figur des Bruders steht Handkes Onkel, der in verschiedenen fiktionalen Varianten immer wieder in seinem Werk auftaucht, zuletzt als slowenisch-kärntnerischer Partisan im Theaterstück Immer noch Sturm.

Dieselbe Geschichte: Pilze

Sie sind ein wichtiges Motiv in Ein Jahr in der Niemandsbucht und in Lucie im Wald mit den Dingsda, kommen aber auch in anderen Werken Handkes vor. Der leibhaftige Handke hegt eine Liebe zu diesen Gewächsen, die zeitweise zur Obsession geworden ist. Auf der Terrasse des eleganten Restaurants sitzend zieht er, während wir auf die bestellten Speisen warten, einen dicken Stanniolpapierknollen aus der Rocktasche, öffnet ihn und zeigt mir den Inhalt: winzige Eierschwammerl, dazwischen zwei oder drei Steinpilze, ebenfalls Winzlinge. Schon bei meinem Besuch im letzten Jahr hatte ich Handke gesagt, dass ich Eierschwammerl nicht vertrage; in dem Essen, das er damals kredenzt hatte, waren andere, für mich ungefährliche Pilze. Damals hatte ich wenige Tage später am Starnberger See ein Risotto mit Pfifferlingen gegessen. Beim letzten Bissen wurde mir klar, dass es Eierschwammerl waren. Die Sprachbarriere zwischen Österreich und Deutschland hatte mich zum Opfer werden lassen. Ich wusste, dass in vier Stunden die Koliken beginnen würden, und so war es dann auch. Diese Geschichte erzählte ich Handke und seiner Frau, und kurz darauf nahm ich das Stanniolpapier mit den Pilzen in die Hand und näherte das Ganze meiner Nase, weil ich den Duft genießen wollte. Meine beiden Tischgenossen fielen mir gleichzeitig in den Arm und riefen entgeistert: Non, non! Ich beruhigte sie, ich wolle nur riechen, und war gerührt von ihrer Fürsorglichkeit.

Dieselbe Geschichte: Frauen

"Ich habe eine andere Allergie", sagt Handke und lässt uns zwei Sekunden warten, bevor er die Antwort gibt: "Die Frauen." Sophie sieht ihn von der Seite her an, empört, spöttisch, wirklich oder ironisch empört. In Chaville lebt Handke allein, im oberen Stockwerk ist noch das Kinderzimmer, seine Angehörigen fahren oft zu ihm hinaus, aber Sophie wohnt in der Stadt, in Saint-Germain-des-Prés. "Wir haben zwei Wohnungen" : beide sagen das im Plural. Seit kurzem haben sie außerdem ein Landgut nördlich von Paris, das Geld ist ja nichts mehr wert, man muss sich etwas dafür kaufen: dieselbe Sorge, wie sie die meisten europäischen Bürger in diesen Zeiten hegen. Handke, scheint mir, braucht beides, den Abstand und die Nähe, die Einsamkeit und die Familie. Einem seiner Bücher hat er den Titel Kindergeschichte gegeben, die Mutter des Kindes ist darin kaum mehr als ein Schatten; andere Bücher sind Frauengeschichten, zum Beispiel Die linkshändige Frau. Diese Frau in der Pariser Banlieue, nicht sehr weit von Handkes heutigem Wohnort entfernt, ist eine fiktionale Verkörperung des Autors, und zugleich kann man in Bruno, dem hilflosen, aber auch zu Gewaltausbrüchen neigenden Mann, den sie verlassen hat, ein Alter Ego Handkes sehen. Handkes literarische Frauengeschichten sind Trennungsgeschichten und Abstandsgeschichten, den Auftakt zu dieser Serie bildet Der kurze Brief zum langen Abschied, wo es am Ende heißt: "Und Judith erzählte, wie wir hierher nach Amerika gekommen waren, wie sie mich verfolgt hatte, wie sie mich beraubt hatte und mich umbringen wollte, und wie wir nun endlich bereit waren, friedlich auseinanderzugehen." Die friedliche Trennung als beste realisierbare Möglichkeit zwischengeschlechtlicher Beziehungen. Ansonsten gibt es in Handkes Erzählungen aufseiten des Helden nur zweifelnde Neugier oder scheue Bewunderung für "funktionierende Beziehungen", harmonische Ehen, Familienidyllen.

Allergie gegen Frauen, aber auch Bewunderung, Faszination, ein genauer Blick für sie, dem die Kraft eignet, sie einzufangen (wie Handke in seinem Don-Juan-Buch verrät). Die Frauen, mit denen Handke längere Zeit zusammen war, waren alle Schauspielerinnen. Frauen zum Anschauen, die von sich aus Distanz fordern? Sophie Semin macht auf mich nicht diesen Eindruck, sie wirkt zugleich mädchenhaft und mütterlich, naiv und klug. Naiv neben dem Autor, der so viele Bücher geschrieben, Theater beliefert, Filme gedreht, Auseinandersetzungen geführt und, ja, Schlachten geschlagen hat; zugleich aber weltklug, nicht wirklichkeits-, wohl aber lebensnäher als er. Am fortgeschrittenen Abend führen mir die beiden einen Streit vor, Handke zuerst reserviert, dann schwungvoll, das Thema zieht die Kontrahenten mit. Meinungsstreit, auch wenn Handke sagen würde: Es geht hier nicht um Meinungen. Wer will schon Streit? Wer will schon Meinungen? Immer ist da etwas, das einen hineinzieht; man kämpft darum, verschont zu bleiben und den anderen zu schonen. Einer wie Handke kämpft immer auch gegen sich selbst. Daher das ständige Fragen in seinen Büchern, spätestens seit den 90er-Jahren, als es mit dem realen Jugoslawien und der Utopie des Neunten Landes vorbei war.

Als wir nach Mitternacht auf dem Boulevard nach Hause bzw. zu unserem Trennungspunkt spazierten, war der Missmut auch schon wieder verflogen. Zuvor hatte Handke gemeint, Sophie würde diese Diskussion nur heraufbeschwören, weil ich dabei sei, ein mehr oder minder unbeteiligter Dritter, der nötige Zuschauer für den kleinen Theaterdialog. So geht das ja auch im Leben, oft brauchen zwei einen Dritten, damit sie überhaupt über bestimmte Dinge reden können. Nachdem Schweigen eingekehrt war, Schweigen, umhüllt vom Fahrzeug- und Stimmenlärm, hatten die beiden eine Zeitlang in entgegengesetzte Richtungen geschaut. Jetzt, wo ich das Bild wieder vor mir sehe, erscheint mir dieses stille Auseinander heilsam, um nicht zu sagen: verbindlich. Der lange Abschied auf einer höheren, produktiveren Ebene.

Derselbe Zorn

"Grundwut" und "Grundzorn", diese Wörter habe ich in Büchern Handkes gelesen. Auf den Zorn, in allen Lebenssituationen als gefährlich erachtet, scheinen die Künstler eine Art Anrecht zu haben. Angry young men, angry old men, nur in der Mitte, in der Reifezeit, die im Fall Handkes die Zeit der Wiederholung, der Existenz auf dem Salzburger Mönchsberg, der Sorge für die heranwachsende Tochter ist, tritt so etwas wie Beruhigung ein, die Verwirklichung des von Stifter ererbten Sanften Gesetzes. In einem von Handkes letzten Büchern kokettiert ein alter Schauspieler mit dem Amoklauf, tatsächlich aber geht er aus der Banlieue friedlich ins Stadtzentrum, von Chaville nach Montparnasse, Saint-Germain und weiter über eine der Seine-Brücken zur Rive droite. Die Launenhaftigkeit, die Handke manchmal an den Tag legt, und die schnippischen Sprüche gegen irgendwen, irgendwas sind ein verhaltener Zorn. In diesem Buch, Der Große Fall, kommt ein Film von Clint Eastwood vor, Gran Torino, der nicht nur dasselbe Epitheton im Titel trägt, sondern auch von einem großen Fall, einem letzten Zusammenbruch erzählt, der sich auf sanfte Weise ankündigt: Ruhe vor dem Sturm, Frieden im täglichen Krieg. "Nein, nicht wie Clint", redet sich Handkes Schauspieler zu. "Nicht sich opfern für den Frieden und für eine oder überhaupt die Allgemeinheit." Handke, kein Schauspieler jetzt, sondern ein Schauender, der den bewegten Himmel und die Passanten betrachtet, die Litfaßsäule, das Werbeplakat von Paris Match: Vanessa Paradis, wer ist denn das, ach ja, diese Sängerin mit der kindlichen Stimme, " Schauspielerin", verbessert mich Handke, meinetwegen, und Johnny Depp, wer soll das sein? Handke liest, um das echte Leben zu stören, die bedeutende Nachricht ab: Vanessa und Johnny trennen sich, die Scheidung steht bevor. Oder bezieht Handke die Nachricht auf seine Frauenallergie, auf die unvermeidlichen Trennungen, auf uns hier jetzt? Oder ist alles nur Zufall, eingefädelt von einer unverwüstlichen Illustrierten? Ein argentinischer Ausdruck fällt mir ein, como jode, er nervt, geht uns auf den Geist. "Manchmal sehe ich Orakel", sagt Handke, und die Wolken werden zu Zeichen: "Du wirst den Preis nicht bekommen." Ich bin auf dem Weg nach Klagenfurt, Bachmannpreislesen, letztes Jahr hat Maja Haderlap gewonnen, die mit ihm befreundet ist ("eine gute Nacherzählung": über Engel des Vergessens). "Du wirst Zweiter", fügt er hinzu, um nicht zu streng zu wirken. Eigentlich hätte ich erwartet, dass er über den Literaturbetrieb herzieht, wie vor vierzig Jahren, als er selber Teil davon war.

Empfindlichkeit

Der Stadtlärm, das Rauschen der Großstadt. Handke empfindet es nicht als Lärm. Und die Motorräder? Der Boulevard Montparnasse ist einer der breitesten von Paris, da kann man in Ruhe lustwandeln. Wer drüben in Montmartre oder Belleville wohnt, sieht die Dinge anders, hört sie anders, fühlt sich ständig bedrängt, bedroht. Sophie stimmt mir zu, Handke bleibt bei seiner Wertschätzung des Großstadtrauschens. Und beginnt dann von seinem Kampf mit "den Japanern" zu erzählen, die seit einigen Jahren in Chaville seine Nachbarn sind, ein Filmproduzent, die Kinder sind in Paris aufgewachsen. Lärmende Jugendliche, die ihre Musiklautsprecher gegen den Autor hinter der Gartenmauer richten, der womöglich arbeiten will. Derlei Kämpfe hat Handke öfters beschrieben, zum Beispiel in seinem Epos von der Niemandsbucht, die ja die Umgebung von Chaville ist. In Die Morawische Nacht nimmt der Autor an einem Symposion über "Lärm und Geräusche" teil, in dessen Verlauf sich " Geräuschkranke" über "Geräuschabwehr" Gedanken machen. Die auditive Empfindlichkeit wurzelt bei Handke jedoch in einer allgemeineren Empfindsamkeit, einer außerordentlichen Aufnahmebereitschaft für Sinneseindrücke, die es ihm erst erlaubt, eine bestimmte Art von Literatur, von Wahrnehmungsprosa, zu schreiben. Bücher wie Die Angst des Tormanns beim Elfmeter, in denen die Umwelt zumeist als Bedrohung erscheint, und andere wie Die Lehre der Sainte-Victoire, in denen das Sehen und Hören und Riechen und Spüren (etwa beim Schwimmen in einem Fluss) ein Gefühl weltumspannender Geborgenheit ermöglichen.

Faschismus ...

... bedeutet Krieg. Diese Formel dürfte Handke gleichsam in den Körper eingeschrieben sein. Den Faschismus auf eine einsame Spitze getrieben haben die Deutschen und Österreicher. Für die meisten Nachkriegsautoren, Handke zählt in gewisser Weise noch zu ihnen, waren diese Annahmen Voraussetzungen ihrer Schreibkunst, wie unterschiedlich sie diese auch praktizierten. Auf der Terrasse des Restaurants in Montparnasse, wo Motorräder vorbeibrausen und endlos lange 91er-Busse rumpeln, erzähle ich Anfang Juli 2012 – keine Ahnung, wie ich darauf gekommen bin – vom Film Der Untergang, den ich kürzlich in einem Raum der Universität Hiroshima gesehen habe. Mein Horror vor diesen grauenhaften Witzfiguren, Hitler, Goebbels und Konsorten, hatte sich vermischt mit halluzinatorischen Wahrnehmungen, die Kriegsgeräusche des Films und die Friedensgeräusche der Wirklichkeit waren plötzlich nicht mehr trennbar. Ich musste den Raum verlassen, um kein Gesundheitsrisiko einzugehen. Handke nickt, er kennt die Gewalt der Geräusche. Ich weiß nicht, welche Bemerkung Sophie machte, jedenfalls ereiferte sich Handke, er begann, das alte Thema der Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Verbrechen abzuhandeln. Ich selbst bin mit diesen Diskursen aufgewachsen; Sophie, die Französin, nicht. Die Unvergleichbarkeit jener Gräuel war für mich lange Zeit ein Dogma, aber irgendwann – auch die Geschichte ging ja weiter – begann ich zu zweifeln. Zu zweifeln, mehr nicht; ich habe das Dogma nicht durch ein anderes ersetzt. Und Sophie hat es nie geteilt. Andere Völker seien nicht zu solchen Gräueltaten fähig? (Nicht in dieser Form, nicht in diesem Ausmaß, mit dieser Absolutheit ...) Sophie hält dagegen. "Du redest nur so, weil er da ist" , sagt Handke und deutet auf mich. "Sonst streiten wir nie über dieses Thema." Dann bringt er das Verhalten der deutschen Regierung kurz vor dem Ausbruch der Jugoslawienkriege mit der deutschen Geschichtsschuld in Zusammenhang. Die Deutschen (und Österreicher) hätten 1991 neuerlich einen Krieg ausgelöst. Einen Krieg, der, so scheint Handke es zu sehen, an jenem Punkt noch vermeidbar gewesen wäre. Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus, diese "Ursache all meiner Schwermut", wie eines seiner literarischen Alter Egos sagt, und die Sympathie für eine jugoslawische Alternative sind in seinem Denken unauflöslich miteinander verschränkt. Die Verschränkung ist kein Trick, kein Winkelzug, sie ist in Handkes Lebenserfahrung begründet.

Versöhnung

Auf dem Weg zur Place du 18-Juin-1940, gegenüber vom hohen Montparnasse-Turm, wo ich in Paris meistens wohne, verfliegt der Zorn, die warme Nachtluft ist wie ein Geleit. Handke zieht mich an sich, jetzt ist er wirklich der große Bruder. Mein Gregor. Den Preis werde ich nicht bekommen, und das spielt keine Rolle.

Es ist spät, er will den letzten Zug nach Chaville erreichen und eilt über den Platz zum Bahnhof. Sophie geht in die andere Richtung, die Rue de Rennes hinunter, langsam, unbekümmert, ein wenig schaukelnd. Ich habe den kürzesten Weg, stehe gleich vor der Haustür. An diese Adresse hat mir Handke ein paar Mal geschrieben. Er weiß um die Bedeutung des Datums, Straßennamen und Denkmäler sind ihm wichtig. Am 18. Juni 1940 war der erste Aufruf von General de Gaulle zum Widerstand gegen die deutsche Armee, die wenige Tage zuvor Paris besetzt hatte, im Radio zu hören. (Leopold Federmair