Rudolf Hundstorfer: "Bei den Lehrlingen sehen wir ein anderes Problem: Wir kämpfen ums Image, wir kämpfen um die Breite der Ausbildung."

Foto: derStandard.at/Maria von Usslar

Die Zahl der Arbeitslosen ist zuletzt wieder gestiegen. Der Ausblick für das kommende Jahr ist auch nicht sonderlich rosig. Handlungsbedarf sieht Arbeits- und Sozialminister Rudolf Hundstorfer vor allem bei den Jungen. Im Interview mit derStandard.at erklärt er, wo brutal nachqualifiziert werden muss, warum die Wirtschaft händeringend nach Fachkräften sucht, die Arbeitslosenzahlen dennoch steigen, und ob er Albträume von Helmut Elsner hat.

derStandard.at: Herr Hundstorfer, Sie haben bei der Stadt Wien Bürokaufmann gelernt und Karriere mit Lehre gemacht. Was haben Sie aus Ihren Jahren als Lehrbub ins Ministerbüro mitgenommen?

Rudolf Hundstorfer: Was ich versucht habe mitzunehmen, ist eine gewisse Bodenhaftung und Menschen in den unterschiedlichsten Lebenslagen zu verstehen. Das ist mir, glaube ich, ganz gut gelungen.

derStandard.at: 1980 waren etwas mehr als 50.000 Österreicher arbeitslos, heute sind es zirka 322.000. Jetzt mussten Sie wieder eine höhere Arbeitslosen-Zahl bekannt geben. Wie erklären Sie solche Zahlen den Österreichern?

Hundstorfer: Wir haben viel mehr Beschäftigte als 1980. Wir haben einen offenen Arbeitsmarkt innerhalb Europas, eine höhere Frauenbeschäftigungsquote und erfreulicherweise eine höhere Beschäftigungsquote von Älteren. Die ist in der Auswirkung am Arbeitsmarkt nicht so dramatisch, weil wir auch weniger Jugendliche haben. Wir versuchen hier, aktivierend dagegen zu steuern.

derStandard.at: Eine Milliarde pumpt Österreich derzeit in aktivierende Arbeitsmarktpolitik. Wird das im Hinblick auf die weiter abflachende Konjunktur reichen?

Hundstorfer: Wenn man aktive und aktivierende Arbeitsmarktpolitik zusammenrechnet, sind wir bei 2,1 Milliarden. Die Hauptsorgengruppe hat fast keine Ausbildung, und muss sehr brutal nachqualifiziert werden. Das beginnt bei Hauptschulabschluss nachholen, Lehrabschluss nachholen. Die zweite Hauptgruppe sind die Jüngeren, und da vor allem die 19 bis 24-Jährigen. Da sind alle drinnen: Die, die nix an Ausbildung haben und die, die viel davon haben. Letzteren müssen wir mit Eingliederungsbeihilfen helfen.

Die geringste Arbeitslosigkeit gibt es immer noch bei den Akademikern: Auch wenn man das Falsche studiert hat, hat man also einen leichteren Arbeitsmarktzugang. Natürlich ist immer die Frage, ob das ausreichend ist. Aber der Rahmen ist zumindest seit einigen Jahren nicht reduziert worden, weil wir uns dazu bekannt haben: Wir sparen lieber woanders mehr.

derStandard.at: AMS-Chef Johannes Kopf hat gesagt, dass das AMS quasi die Reparaturanstalt für die verfehlte Bildungspolitik ist. Wieso kann sich die SPÖ mit ihren Vorstellungen beim Thema Bildung nicht durchsetzen?

Hundstorfer: Wir leben halt in der Welt des Kompromisses und in einer Koalition. Wir bemühen uns ständig, dass die Bildungspolitik besser wird. Jetzt haben wir wieder ein paar Schritte bei der zukünftigen Lehrerausbildung und bei den Ganztagsschulen bzw. bei der ganztätigen Betreuung zusammengebracht. Aber wir sind noch nicht dort, wo wir hingehören. Demzufolge wird das AMS für eine gewisse Zeit weiterhin auch ein Reparaturservice sein.

derStandard.at: Seitens der Wirtschaft wird mit schöner Ausdauer händeringend nach Fachkräften gesucht. Genügend arbeitswillige Arbeitslose vermittelt hingegen das AMS. Ist es nicht ein ziemliches Armutszeugnis für die Wirtschaft wie für die Arbeitsmarktpolitik, dass man da nicht zusammenkommt?

Hundstorfer: Es ist kein Armutszeugnis. Wir haben erstens gesellschaftspolitisch ein bisschen ein Problem: Lehrlingssein hat nicht den gleichen Stellenwert wie eine AHS-Oberstufe. Das Problem geht quer durch alle Schichten. Der zweite Punkt ist: Ja, es gibt Jobs, da werde ich dreckig. Ob ich will oder nicht. Man kann als Facharbeiter Karriere machen, das muss auch in unsere Köpfe hinein. Eine erste Antwort war Lehre und Matura. Da steigt jedes Jahr das Interesse.

Jetzt müssen wir vermitteln, dass halt Installateur oder Fleischer auch was Tolles ist. Und wir haben ein massives Regionalproblem. Das ist zwar philosophisch leicht lösbar, aber praktisch nicht. Ich hab in Wien Arbeitslose, die ohne weiteres in der Steiermark einen Job haben könnten. Wie bringe ich aber den Wiener in die Steiermark? Da gibt es zwar Mobilitätsbeihilfen, aber das funktioniert nicht so, wie sich das manche vorstellen.

derStandard.at: Mobilitätsbeihilfe klingt sehr nett. Aber so einfach funktioniert das wohl nicht. Menschen mit Berufen haben ja durchaus auch so etwas wie familiäre Verpflichtungen zum Beispiel.

Hundstorfer: Damit sind wir schon beim Punkt, um den es geht. Wenn man 40 ist, Familie hat, ist die Mobilität schon eingeschränkt. Wenn man 25 ist und keine Kinder hat, ginge es wahrscheinlich noch leichter. Da heißt es, frühzeitig zu sagen: Da hätten wir Karrierechancen für dich. Das ist nicht nur ein Wiener Thema, sondern auch ein Grazer oder Linzer Thema, ein Thema der Städte. Wenn man sich den Speckgürtel Wien anschaut: 220.000 kommen herein, 100.000 fahren raus. Da tut sich schon einiges.

Was in Ballungsräumen wie Wien dazukommt: Wir haben fast keine produzierende Industrie mehr. Der Mechatroniker ist in der Steiermark, in Ober- oder Niederösterreich sofort untergebracht, in Wien: Schwierig. Wien hat andere Betriebe, zum Beispiel in Tourismus, Hotellerie, Fremdenverkehr. Da können wir viele, viele Menschen brauchen.

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derStandard.at: Das führt uns direkt zur heimischen Gastronomie. Dort sucht man vermehrt nach Arbeitskräften in den Krisenländern des Südens. Die Branche gilt als nicht sonderlich attraktiv, die Löhne sollen eher gering, die Arbeitsbedingungen verhältnismäßig grauslich sein. Sind da die Unternehmer überheblich? Müsste man seine Mitarbeiter nicht einfach gescheit bezahlen?

Hundstorfer: Ja. Ein Teil sind die Unternehmer. Wobei: Die Spitzengastronomie und die Spitzenhotellerie haben überhaupt kein Problem. Das Hauptproblem ist der Mittelbau, der teilweise wirtschaftlich nicht so erfolgreich ist. Andererseits ist klar, dass im Schnitt gesehen die Arbeitsbedingungen nicht immer die lustigsten sind. Alleine schon von der Arbeitszeit her. Es gibt zwar eine Fünf-Tage-Woche, aber Sonntag arbeiten ist für viele nicht die Glückseligkeit. Und natürlich muss mehr bezahlt werden und müssen die Bedingungen passen. Viele Unternehmen haben auch reagiert und tun das. Es läuft, aber es läuft halt zu wenig.

derStandard.at: Sind die Arbeitnehmer auch überheblicher geworden?

Hundstorfer: Schauen Sie, wir leben in einem sehr tollen, freien Land, wo man selbst entscheiden kann: Was tue ich? Das ist ja super, damit habe ich kein Problem. Wenn ich mir heute gewisse Studienrichtungen ansehe, die überproportional belegt sind, wo es nachher in der Arbeitswelt nicht ausreichend Jobs gibt, dann haben wir ein Problem. Mein derzeitiges Lieblingsthema ist die Architektur: Da haben voriges Jahr 1.000 inskribiert nur in Wien. Sollen davon 500 fertig werden – diese Jobs haben wir nicht.

Genauso, wie wir zu wenige Studierende in technischen Studienrichtungen haben, haben wir in gewissen philosophischen überproportional viele. Jeder soll weiterhin Politologie studieren können, wenn er das will. Es muss nur klar sein, dass ich mit einem fertigen Studium in der Politologie keinen Job finde.

derStandard.at: Das sind aber eh die flexibelsten Leute.

Hundstorfer: Ja, eh. Darum sage ich immer dazu, dass Akademiker immer noch mit 2,3 Prozent die geringste Arbeitslosigkeitsrate aufweisen. Bei den Lehrlingen sehen wir ein anderes Problem: Wir kämpfen ums Image, wir kämpfen um die Breite der Ausbildung. Aber wir kommen bildungspolitisch nicht über die Rampe. Die Masse der jungen Frauen bleibt bei fünf Lehrberufen hängen, bei den Burschen sind wir bei zehn, obwohl wir an die 200 haben.

derStandard.at: Für wen ist das ein Armutszeugnis?

Hundstorfer: Für uns alle. Für die Eltern, für die Gesellschaft, für die Schule, für die Politik.

derStandard.at: Kommen wir vom Anfang der Erwerbsbiografie zu deren Ende, nämlich zur Pension. In einem Interview meinten Sie, Ihre guten Beliebtheitheitswerte liegen daran, dass Sie ehrlich sind und zum Beispiel sagen: "Liebe Leute, wir müssen länger hackeln." Sie sind jetzt über 60 und noch immer hackeln sie. Wollen Sie als gutes Bespiel voran gehen?

Hundstorfer: Ich kann natürlich nicht als Sozialminister derjenige sein, der sich als erster verabschiedet.

derStandard.at: Mittlerweile ist es in unseren Köpfen angekommen, dass wir bis 65 oder länger arbeiten werden. Wo sind die passenden Jobs dazu?

Hundstorfer: Die beginnen sich aufzustellen. Es gibt weniger Junge und die Wirtschaft muss sich mehr um die Älteren kümmern. Wir haben in den ersten neun Monaten 2012 im Vergleich zum Vorjahr um zehn Prozent mehr Beschäftigte, die über 60 sind. Wir haben die Altersteilzeit auf längere Zeiträume umgestellt, die Beratungseinrichtung "fit to work" beginnt immer besser zu greifen, usw. Der Prozess beginnt schön langsam zu funktionieren.

derStandard.at: Sie waren in Ihrer Zeit beim ÖGB sehr strikt gegen die Pensionsreform. Gefällt Ihnen Ihre jetzige Rolle besser?

Hundstorfer: Nostalgie ist nicht angesagt. Was wir 2003 kritisiert haben, war auch nicht die Pensionsreform per se, sondern der Umstieg. Darum sind wir damals auf die Straße gegangen. Wir haben eine andere Umstiegsformel entwickelt, die für die Arbeitnehmer vertretbar und akzeptabel ist. Darum ist das auch so einfach über die Bühne gegangen. Die Debatte war notwendig. Neun Jahre später haben wir es jetzt gemacht.

derStandard.at: Ihr Arbeitsleben ist eng verbunden mit dem Wiener Magistrat. Wie man hört, ist das immer noch ein Hort von Privilegien – vor allem, wenn es um Pensionshöhe oder Pensionsalter geht. Ist das ein Vorbild oder nackter Wahnsinn?

Hundstorfer: Weder das eine, noch das andere. Fakt ist, dass beim Wiener Magistrat nur mehr 30 Prozent pragmatisiert sind. Der Rest ist in ganz normalen ASVG-Dienstverhältnissen. Über was man wirklich diskutieren kann, ist die Länge des Übergangs, also ab wann gilt das Bundespensionsrecht endgültig. Alles andere sind hochgespielte G'schichtln.

derStandard.at: Sie haben einmal gesagt, Sie wollen keine Neid-, sondern eine Gerechtigkeitsdebatte. Womit wir bei der Vermögenszuwachssteuer sind. Es ist ja schon seit längerem so, dass die Arbeitnehmer immer weniger Geld im Tascherl haben, und der Beitrag der Vermögenden schrumpft. Wieso ist das früher niemandem aufgefallen?

Hundstorfer: Es wird immer welche geben, die mehr verdienen. Die Frage ist: Hat der, der viel verdient, andere steuerliche Möglichkeiten, als der, der weniger verdient? Das ist die große Frage der Gerechtigkeit. Dann gibt es noch jene, die aus einem nicht erwerbsmäßigen Einkommen viel verdienen. Da ist die Frage, ob man da nicht steuerlich einen anderen Beitrag verlangen kann. Vermögensbelastung war immer ein Thema.

Aber die SPÖ hat in den letzten zehn, fünfzehn Jahren keine ausreichenden Mehrheiten zusammengebracht, um da entsprechend die Durchsetzungsenergie zu haben. Wir haben schon viel zusammengebracht in den letzten zwei Jahren, von der Bankenabgabe bis zur Stiftungsbesteuerung. Das letzte Stückerl fehlt noch, und das werden wir weiter vorantreiben.

derStandard.at: Wäre der Wahlkampf ein guter Zeitpunkt dafür? Noch dazu, wo die Grünen das Thema Mieten besetzt und Ihnen weggeschnappt haben?

Hundstorfer: Naja, besetzen kann man das nicht nennen. Wirklich besetzt haben das Thema in Graz die Kommunisten, aber sonst niemand. Auf Bundesebene ist die Mietfrage natürlich ein Thema, weil wir mehr sozialen Wohnbau brauchen. Das primäre Ziel muss sein, ihn weiter voranzutreiben. In Wien sind wir da ganz gut unterwegs. Würde man beim geförderten Wohnbau die Zweckbindung konsequent durchhalten, würde auch etwas weitergehen.

derStandard.at: Wenn beim ÖGB von "Rudi" die Rede war, dann war Metallerchef Rudolf Nürnberger gemeint. Sie waren im ÖGB höchstens Rudi der Zweite. Bis zur dramatischen Bawag-Geschichte. Jetzt werden Sie für fast jedes Spitzen-Amt der Republik genannt, gelten als die "Nachwuchshoffnung" der SPÖ. Was wäre denn der passende Altersjob für Sie?

Hundstorfer: Ich habe einen tollen Job, und möchte den so lang wie möglich machen. Alle Spekulationen lasse ich Spekulationen sein.

derStandard.at: Aus der dramatischen Bawag-Geschichte sind Sie ja gut ausgestiegen. Haben Sie eigentlich Albträume von Helmut Elsner?

Hundstorfer: Nein, weder Albträume noch sonstiges. Ich bin da ganz entspannt. Elsner hat mich in Österreich schon dreimal geklagt, und drei Einstellungen des Verfahrens dafür bekommen. Mich beschäftigt das Thema periodisch immer noch, weil ich jüngst wieder bei einer Zeugenaussage vor Gericht war. Da ist zum Glück ein System auseinandergebrochen. Aus dieser Geschichte muss man nur lernen, lernen, lernen, wie man es nicht macht. (Interview: Regina Bruckner, Daniela Rom, Video und Fotos: Maria von Usslar, derStandard.at, 3.12.2012)