"Ärzte ohne Grenzen" hilft den Flüchtlingen im Südsudan mit hunderten Mitarbeitern vor Ort.

foto: robin meldrum/msf

Kaum Straßen, keine Infrastruktur und über 100.000 Flüchtlinge – in dieser Lage befindet sich derzeit der Südsudan. Seit einem Jahr schwillt der Flüchtlingsstrom aus dem benachbarten Sudan kontinuierlich an. Im Norden des Landes betreut "Ärzte ohne Grenzen" mehrere Flüchtlingscamps. Florian Lems ist seit Anfang November vor Ort, hat alle Camps der Organisation besucht und berichtet derStandard.at via Skype aus dem Flüchtlingscamp Doro von der Situation im Südsudan.

derStandard.at: Internationale Hilfsorganisation berichten von dramatischen Situationen im Norden des Südsudan. Wie viele Flüchtlinge befinden sich im Südsudan?

Lems: Schätzungsweise befinden sich hier über 170.000 Flüchtlinge aus dem Sudan. Sie verteilen sich einerseits auf das Lager Yida im Bundesstaat Unity, wo rund 65.000 Menschen vor allem aus der sudanesischen Provinz Südkordofan geflüchtet. Hier in der Provinz Maban, die weiter östlich liegt, leben etwa 110.000 Flüchtlinge, die sich auf vier Lager verteilen. Der letzte große Anstieg an Flüchtlingen fand im Juli statt, als eine große Welle gekommen ist.

derStandard.at: Der Südsudan ist ein junger Staat und die Infrastruktur ist eher dürftig. Vor welchen logistischen Herausforderungen stellt das die Helfer vor Ort und was bedeuten diese Schwierigkeiten für die Versorgung der Flüchtlinge?

Lems: Man muss sich vorstellen, dass mehr als 100.000 Menschen praktisch im Nirgendwo festsitzen, also gibt es auch entsprechende Probleme. Was man hier ständig sieht, ist, dass dieses Land Jahrzehnte des Krieges und des Bürgerkrieges hinter sich hat. In Österreich werden Straßen, Wasserversorgung etc. als selbstverständlich hingenommen – hier gibt es kaum Infrastruktur. Eigentlich gilt für den gesamten Südsudan, dass die Infrastruktur ein Desaster ist. Gerade die Provinz Maban, wo sich derzeit mehr als 110.000 Flüchtlinge aufhalten, ist noch dazu wirklich abgelegen. Das stellt unser Team vor wahnsinnige Herausforderungen: Es ist nichts vorhanden und man muss alles einfliegen.

Zusätzliche Probleme haben wir hier vor allem während der Regenzeit gehabt, die nun zu Ende ging. Der Boden nimmt das Wasser kaum auf und dadurch entsteht unglaublich viel Schlamm. Das heißt, während der Regenzeit sind hier mehr als hunderttausend Menschen im Schlamm festgesteckt. Das hat die Logistik natürlich erheblich erschwert, weil auch die wenigen Straßen, die es gibt, im Schlamm versunken sind.

derStandard.at: Sie sind für "Ärzte ohne Grenzen" im Südsudan. Was macht die Organisation vor Ort?

Lems: Der Südsudan ist eines unserer größten Einsatzländer mit dem meisten Personal vor Ort. Hier in den vier Flüchtlingslagern in Maban sind wir über 140 internationale und 350 lokale Mitarbeiter. Unsere Aktivitäten sind sehr umfassend: Zunächst sind wir für die Gesundheitsversorgung in den Camps zuständig. In allen Lagern haben wir Kliniken, wo Patienten sowohl ambulant als auch stationär behandelt werden können. Wir haben in den meisten Lagern gleich mehrere Gesundheitszentren eingerichtet. In Camps dieser Größe ist es wichtig, dass man dezentral arbeitet, um soviele Menschen wie möglich zu erreichen. Dort werden auch unterernährte Kinder ambulant behandelt und versucht, dass die Kinder mit einer therapeutischen Spezialnahrung wieder zu Kräften kommen. In schweren Fällen müssen die Kinder stationär aufgenommen werden, um dort intensiv betreut.

Weiters haben wir Teams, die Aufklärungsarbeit in den Camps betreiben und auch erster Ansprechpartner für Neuankömmlinge sind. Sie informieren die Leute über die Gesundheitszentren. Ein wichtiger Aspekt unserer Arbeit ist auch eine psychologische Betreuung für die Flüchtlinge. Die Menschen sind traumatisiert, nicht nur weil sie aus ihrer Heimat haben fliehen müssen, sondern auch weil sie jetzt in einem Flüchtlingslager leben müssen.

derStandard.at: Beschränkt sich ihre Arbeit nur auf medizinische Aspekte?

Lems: In einigen Camps sind wir auch für die Wasserversorgung zuständig. Allein im Camp Doro stellt "Ärzte ohne Grenzen" rund 250 Kubikmeter an sauberem Trinkwasser per Pumpe zur Verfügung. Das ist ein irrsinniger Aufwand: Das Wasser muss aus Tiefbrunnen gefördert, gereinigt und dann zu den Menschen gebracht werden. Trotzdem sind die hygienischen Bedingungen in manchen der Camps nach wie vor prekär. Es ist schwierig, wenn solche Menschenmassen zusammenkommen. Es ist in dieser abgelegenen Gegend auch eine wahnsinnige logistische Herausforderung – große Zeltstädte in einer sehr kargen Umgebung.

Die Menschen haben sich in den Lagern so gruppiert, wie ihre Dörfer in ihrer Heimat waren. Das macht es für unsere Teams auch übersichtlicher, weil man die Leute auch besser erreichen kann, z. B. bei Aufklärungsarbeit über Hygiene, Krankheiten und psychologischer Hilfe, die angeboten wird.

derStandard.at: Was sind zur Zeit die drängendsten medizinische Probleme in den Camps?

Lems: Mangelernährung war in einigen Lagern ein großes Problem, allerdings haben wir das durch massive Aufstockung der Hilfe in den Griff bekommen. Im Sommer hatten wir erschreckende Sterblichkeitsraten: Im Flüchtlingscamp Yida sind im Schnitt fünf Kinder pro Tag wegen Mangelernährung oder anderer Krankheiten gestorben – die Unterernährung war alarmierend.

Hier im Flüchtlingscamps Doro sind mittlerweile rund 30 Prozent aller Komplikationen Malariafälle, das ist ein großes saisonales Problem nach der Regenzeit. Auch Atemwegserkrankungen sind ein großes Problem, gerade bei kleinen Kinder, was oft im Zusammenhang mit der Mangelernährung steht, da die Kinder dann sehr viel anfälliger sind, krank zu werden. Sobald sie dann krank sind, essen sie in der Regel noch weniger – diesen Teufelskreis versuchen wir zu bekämpfen.

derStandard.at: Wie ist die Sicherheitslage vor Ort?

Lems: Die Sicherheit in den Lagern zum Glück ganz gut. Da gibt es keine großen Probleme, wie man sie in anderen Camps kennt. Vereinzelt gibt es zwar Spannungen mit der lokalen Bevölkerung, aber das in einem normalen Ausmaß. Man muss bedenken, dass sich die Bevölkerung hier in Maban fast vervierfacht hat, und natürlich geht das nicht ganz ohne Reibungen ab.

derStandard.at: Sie haben bereits die dramatische Situation im Sommer beschrieben, doch was erwartet man für die nächsten Monate?

Lems: Die Lage ist zwar stabil, aber fragil. Wir müssen immer darauf vorbereitet sein, dass sich die Lage wieder zuspitzen kann. Es braucht nur sehr wenig, dass die Situation wieder kippen kann – das ist die große Herausforderung.

Wir sind hier in einem völlig abgeschiedenen Ort, wo man Hilfe eigentlich fast nur per Flugzeug einfliegen kann, weil der Weg mit Schiff und über Straßen Wochen in Anspruch nehmen kann. Es ist eine riesige logistische Herausforderung, Hilfsmittel für zehntausende Menschen hierher zu bringen. Man muss sich vor Augen führen, dass es fast genau ein Jahr her ist, seit die ersten Flüchtlinge hier angekommen sind und seither ist ihre Zahl stetig angestiegen und es sieht nicht danach aus, als ob die Menschen in den nächsten Wochen und Monate zurückkehren können. Wir bereiten uns auf eine längere Flüchtlingskrise vor. Es geht jetzt über in eine chronische Krise und da besteht immer die Gefahr, dass der Grad an Hilfe nicht aufrecht erhalten werden kann, weil der Fokus – auch jener der Medien – nicht mehr da ist.

derStandard.at: Wird das Ausmaß des Problems international – von den Medien wie auch von Seiten der Politik – überhaupt wahrgenommen?

Lems: Ich habe den Eindruck, dass vor allem die Wahrnehmung dieser Krise in den Medien ausgesprochen gering ist – auch in Österreich. Ich weiß nicht, was genau eine Flüchtlingskrise interessant macht, aber der Südsudan ist eindeutig underreported. Es ist kaum zu lesen, was hier eigentlich los ist.

derStandard.at: Das Flüchtlingshilfswerk der UNHCR hat öffentlich beklagt, dass nur 40 Prozent der versprochenen Mitteln eingegangen sind. Wie sieht die finanzielle Situation für die Teams von "Ärzte ohne Grenzen" vor Ort aus?

Lems: Wir haben das Glück, dass wir nicht auf staatliche Gelder angewiesen sind. "Ärzte ohne Grenzen" wird aus Privatspenden finanziert und das stellt auch sicher, dass wir finanziell unabhängig agieren können. Wir werden die Hilfe auch nicht abbauen, sondern bei Bedarf sogar aufstocken. Natürlich braucht es dafür sehr viel Geld. Wir investieren das Geld wo es gebraucht wird und hier wird es gebraucht. Es wäre aber auch wichtig, dass alle anderen Akteure am Ball bleiben, weil es sonst katastrophale Folgen haben kann. (Stefan Binder, derStandard.at, 30.11.2012)