Ein Mann mit vielen Facetten: Der Brite Daniel Day-Lewis verkörpert "Lincoln" und wird dafür wieder mal als Oscar-Kandidat gehandelt.

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Es ist die Stimme. Sie lockt und schmeichelt und droht, sie erzählt wunderbar weise Alltagsgeschichten, während nervöse Minister, Offiziere und Funker im Telegrafenamt zu Washington der Nachricht von der Kapitulation eines bombardierten Südstaatenhafens entgegenfiebern. Der Kentucky-Akzent der näselnden Stimme entspricht der historischen Wahrheit, auch wenn sich manche Amerikaner ihren Abraham Lincoln eher so wünschen, wie ihn Hollywood früher darstellte.

Da deklamierte Old Abe seine Gettysburg-Rede in donnerndem Bariton, passend zum Mythos. In Steven Spielbergs Lincoln dagegen lässt Daniel Day-Lewis den weitsichtigen und doch innerlich zerrissenen Mann in allen Facetten aufleben. Lincoln kann herzlich sein, aber auch herrisch. Schlau und raffiniert, unnachgiebig hart und zugleich melancholisch, wenn er um seinen elfjährig verstorbenen Sohn Willie trauert.

So wirklichkeitsnah wie die Stimme ist auch der Plot, reduziert auf vier Monate im Leben Lincolns, die letzten vier Monate, bevor der Reformer am 14. April 1865 im Ford's Theatre erschossen wird. Nach über 600.000 Toten geht der Bürgerkrieg seinem Ende entgegen. Der "Große Emanzipator" will in ordentlichen Gesetzen verankern, was er 1862 mit den Ausnahmevollmachten des Kriegsherrn durchgesetzt hatte. Er will die Emancipation Proclamation, das Ende der Sklaverei, unumkehrbar machen. Ein Verfassungszusatz soll den Geburtsfehler des Landes ein für alle Mal korrigieren. Der parlamentarische Kraftakt kann nur gelingen, wenn sich auch Demokraten im Repräsentantenhaus mit Lincolns Republikanern verbünden.

Zündende Reden, appellierend an die "besseren Engel unserer Natur", bewirken in dieser Zwickmühle nicht viel. Die Engel sind mitunter taub, weshalb der Staatschef drei Schattenmänner nachhelfen lässt, abgebrühte Insider. Kurzum, es geht um das ganze Gezerre hinter den Kulissen, und dass Spielbergs Drehbuchautor Tony Kushner in dem Film eine Handlungsanleitung für Obama sieht, kann nicht verwundern. Für vier Jahre wiedergewählt, konfrontiert mit einem konservativ dominierten Abgeordnetenhaus, muss auch Obama das Patt zwischen Exekutive und Legislative überwinden, soll seine Wunschliste nicht Makulatur bleiben.

Ein US-Präsident sei kein König, meint Kushner, er müsse auf die andere Partei zugehen, egal, wie schwer sie ihm das Kooperieren mache. Die reine Lehre, mahnt seinerseits der Leinwand-Lincoln, sichere den Schwarzen zwar solidarisches Mitgefühl zu, die ersehnte Freiheit aber bringe sie ihnen nicht. Dass Spielberg den Mythos Lincoln bewusst vom Sockel holt, hat er oft betont. Young-Steven war sechs, als er im Washingtoner Lincoln Memorial hinter dorischen Säulen vor dem Marmorkoloss des Sklavenbefreiers stand. "Mir graute vor ihm, ich konnte ihm nicht ins Gesicht schauen." Das Denkmal seiner Kindheit, Spielberg hat es nun menschlicher werden lassen. (Frank Herrmann aus Washington, DER STANDARD, 30.11.2012)