Zuallererst: Worum geht es in der Wehrpflichtdebatte? Geht es nur um Organisatorisches oder um Grundsätzliches? Eigentlich müssten wir doch eine Debatte darüber führen, ob Wehrpflicht generell ethisch vertretbar ist oder nicht. Denn das ist das Grundsätzliche, das es zu klären gilt. Erst dann kann man sich darüber Gedanken machen, wie ein Staat Institutionen, ein Militär oder einen Sozialdienst organisieren will.

Andernfalls wäre es etwa so, als würde man formulieren, dass zum Beispiel Mord zwar grundsätzlich verboten wäre, aber man einzelne Mordarten ausnehmen könnte, wenn es denn irgendeinem staatlichen Interesse nützen würde.

Absurd. Aber genau so steht es in Bezug auf die Zwangsarbeit in der Europäischen Menschenrechtskonvention und im Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation. Wenn man sich diese Werke durchliest, erfährt man zwar den Geist, in dem diese verfasst wurden, nämlich den, im 20. Jahrhundert ethisch nicht mehr vertretbare Erniedrigungen für Menschen zu ächten. Aber dennoch steht dann ein Satz drinnen, der diesem Geist so gar nicht entspricht:

"Nicht als Zwangs- oder Pflichtarbeit im Sinne dieses Artikels gilt ... eine Dienstleistung militärischer Art." (Artikel 4 MRK)

Und das, obwohl gerade die Ausbildung zum Führen von Kriegen und zum Töten einen moralischen wie ethischen Tiefpunkt darstellt. Ganz abgesehen vom psychologischen Problem des hierarchischen Zwangs- und Repressionssystems, das über einen jungen Menschen mit der Wehrpflicht hereinbricht.

Was war das Motiv?

Nun stellt sich die Frage: Warum haben die Unterzeichnerstaaten dieser Menschenrechtswerke gerade den Militärdienst vom Zwangsarbeitsverbot ausgenommen? Die Antwort liegt auf der Hand: weil es opportun war. Kein Staat wollte sich selbst die Möglichkeit nehmen, via Wehrpflicht eine Aufrüstungsmöglichkeit an der Hand zu haben, sei es um einen externen Aggressor abzuwehren oder notfalls auch selbst Angriffskriege führen zu können.

Hier griff offensichtlich wieder die tiefsitzende menschliche Angst, die auch das große Wettrüsten im vorigen Jahrhundert verursacht hat oder in manchen Teilen der Welt Menschen zu Waffennarren und zu gewaltbereiten Gesellschaften gemacht hat.

In diesem einen Punkt haben sich die Unterzeichnerstaaten einfach die Freiheit genommen, sich von ethischen und moralischen Grundsätzen zu verabschieden.

Da uns in Österreich aber externe Feinde fehlen, kann sich ein solcher westlicher, der Idee der Menschenrechte verpflichteter Staat nicht einfach weiter an diesen einen - kritikwürdigen - Buchstaben der Menschenrechtskonvention halten und die unselige Ausnahme des Militärdienstes für sich reklamieren. Das ist ganz klar eine ethische Verfehlung.

Zivildienst nur auf abenteuerlichen Umwegen erlaubt?

Leider wurde die moralische Verwerfung noch weiter vertieft, als auch ein Zwangs-Zivildienst, der von Wehrdienstverweigerern ersatzweise abgeleistet wird, als Ausnahme vom Verbot der Zwangsarbeit zugelassen wurde. Damit stehen wir jetzt vor der absurden Situation, dass ein an sich begrüßenswerter und moralisch einwandfreier Sozialdienst nur deshalb zugelassen werden kann, weil er an die Stelle eines amoralischen und lebensfeindlichen Zwangs-Militärdienstes tritt.

Diese Pattstellung gilt es aufzubrechen. Die Bundesregierung hat jederzeit die Möglichkeit, einerseits die Wehrpflicht für unseren Bereich als menschenrechtswidrig zu erklären, also die eine Ausnahme im Text der Konventionen nicht zu nutzen. Andererseits sollte sie sich dafür einsetzen, dass als neue Ausnahme zum Beispiel ein Sozialdienst für eine begrenzte Zeit und unter bestimmten Schutzbedingungen in die entsprechenden Menschenrechtschartas aufgenommen wird.

Wann werden die Missbrauchsfälle im Präsenzdienst aufgearbeitet?

Es hat auch Jahrzehnte gedauert, bis Missbrauchsopfer aus Erziehunsgeinrichtungen Gehör gefunden haben und ihre Fälle aufgearbeitet werden konnten. Vielleicht wird es auch bei Misshandlungen von Präsenzdienern erst in vielen Jahrzehnten so weit sein, dass sie anerkannt werden. So wenig wie die Gesellschaft in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts reif war, das bittere Leid und erlittene Unrecht von erzieherischen Missbrauchsopfern anzuerkennen, so wenig mag die heutige Gesellschaft bereits reif sein, den menschenrechtswidrigen Missbrauch von Menschen im Wehrdienst als solchen zu erkennen.

Wer die tatsächlichen Berichte von Präsenzdienern liest (nachzulesen beispielsweise auf wehrpflichtade.at), muss zugeben, dass es dort an Vorkommnissen nicht mangelt, die als schikanös, beleidigend, herabwürdigend und sadistisch empfunden werden. Vielleicht halten viele das heute noch für "nicht so schlimm", "hat noch keinem geschadet" oder "daran wächst man". Aber was wird eine zukünftige Gesellschaft von uns denken, die, wie zu hoffen ist, moralisch und ethisch gewachsen ist? (Michael Fiedler, Leserkommentar, derStandard.at, 17.12.2012)