STANDARD: Sie wurden zusammen mit einem Freund in einem Restaurant in Baku offensichtlich im Auftrag der Regierung von Schlägern verprügelt und dann selbst wegen "Hooliganismus" ins Gefängnis gesteckt. Wie lebt man mit einem solchen Unrecht?

Milli: Es passieren viel schlimmere Dinge in Aserbaidschan. Unser Fall erregte aus verschiedenen Gründen weltweit und im Internet viel Aufmerksamkeit. Aber es gibt viele Fälle von weniger prominenten Menschen, nicht einmal politisch aktiven, die einfach verschwinden oder im Gefängnis an Folter sterben. In Aserbaidschan haben wir es mit einer besonderen Form von Autokratie zu tun. Das hier ist Autokratie 2.0.

STANDARD: Eine arrangierte Wirtshausprügelei sieht ja nicht nach supermoderner Autokratie aus.

Milli: Adnan und mich ins Gefängnis zu werfen, war keine besondere Idee. Es war Teil der täglichen Routine dieser Regierung, Leute zu bestrafen, die mit unterschiedlichen Formen und in sehr verschiedenen Gruppen für Freiheit kämpfen. Wir repräsentierten eine neue Generation, junge Leute, die ins Ausland gegangen waren, aber zurückkamen, kein Blatt vor den Mund nahmen, andere Leute organisierten. Sie bestraften uns, wie sie es mit anderen vor uns und nach uns machten, um Leute einzuschüchtern - und um sie es auch sehen zu lassen.

Sie haben es Bürgern erlaubt zu kommen, das Gerichtsverfahren zu verfolgen und Richter zu sehen, die das Gesetz einfach missachten. Dabei ist Aserbaidschan ein Mitglied des Europarats. Es ist ein sehr gutes und gefährliches Modell für andere Autokratien. Sie haben sich zu einer tolerierbaren Diktatur in Europa gemacht.

STANDARD: Sie sind nach den eineinhalb Jahren in Haft nach London zum Studieren gegangen. Warum sind Sie überhaupt wieder zurückgekommen?

Milli: Nach dem Gefängnis hatte ich erst einmal Reiseverbot. Von November 2010 bis Mitte Juni 2011. Ich erhielt eine Menge von Einladungen aus aller Welt, für Konferenzen zur Redefreiheit, beim UN-Menschenrechtsrat in Genf. Ich beschloss dann, meine Reden von der Küche aus zu halten, über Skype. Die Regierung hat das völlig unterschätzt. Sie wollten meine Bewegungsfreiheit einschränken und meine Möglichkeit, Botschaften abzugeben. Tatsächlich aber haben sie mir eine größere Plattform verschafft. Dann ließen sie mich ausreisen.

STANDARD: Wie sieht Ihr Alltag aus? Werden Sie ständig beobachtet?

Milli: Das ist nicht so leicht zu beantworten. Als ich nach London ging, gab ich einer Freundin meine Wohnung - Khadija Ismailowa, einer bekannten investigativ arbeitenden Journalistin bei Radio Free Europe hier. Sie wurde mit ihrem Freund im Bett gefilmt, ihr Sexleben wurde gefilmt. Sie haben versucht sie mit diesem Video zu erpressen und schickten ihr eine Botschaft: "Benimm dich, du Hure, oder du wirst an den Pranger gestellt." Das war letztklassig. Sie haben sie in meiner Wohnung gefilmt, während ich in London war.

STANDARD: Die Kamera war schon vorher installiert worden?

Milli: Das ist genau die Frage. Ich fühle nicht, dass sie mich physisch beobachten, aber es ist im digitalen Zeitalter auch nicht mehr nötig. Ich nehme an, dass auch unsere Unterhaltung jetzt aufgezeichnet wird. Natürlich fangen sie auch meinen E-Mail-Verkehr ab. Ehrlich gesagt, zerbreche ich mir nicht mehr den Kopf darüber. Schon seit Jahren. Ich möchte nicht paranoid werden.

Ich versuche alles total transparent zu tun. Was ich schreibe, sollen Millionen lesen. Wenn sie glauben, sie müssen alles aufnehmen, ist mir das egal. Ich sehe das schon ein wenig künstlerisch. Ai Weiwei (zeitweise unter Hausarrest gestellter chinesischer Künstler; Anm.) hat seinen Körper bewusst vor den Kameras gezeigt. Ich mag den Gedanken nicht wirklich, aber wenn die Regierung der Meinung ist, für die Öffentlichkeit sei es wichtig, was ich in meinen privatesten Momenten mache, dann bitte sehr. Es ist ihre Entscheidung.

STANDARD: Im Fall von Khadija Ismailowa ging diese Rechnung nicht auf.

Milli: Genau. Die Idee war, dass die konservative Gesellschaft im Land sie ächten sollte. Verwandte sollten kommen und sie umbringen, Fundamentalisten würden sie auf der Straße lynchen. Was aber geschah, war, dass die konservativste muslimische Gruppe in Aserbaidschan eine unterstützende Erklärung für Khadija abgab. Es gibt einige grundlegende humane Werte, die wir alle teilen. Solidarität zum Beispiel kann kein autoritärer Staat zerstören. Oder Hoffnung.

STANDARD: Wie viel Einfluss haben die neuen Medien, um politischen Wandel herbeizuführen?

Milli: Ich habe im Gefängnis mehr als 300 Bücher darüber gelesen, wie Menschen in verschiedenen Teilen der Welt erfolgreich oder nicht für politischen Wandel gekämpft haben. Mir war immer klar, dass es verschiedene Faktoren sind, die über politischen und wirtschaftlichen Wandel entscheiden. In Aserbaidschan sind es Öl und die militärischen Interessen der Großmächte.

Ich glaube an das, was wir tun und dass wir unseren Kampf fortsetzen müssen und die Grenzen der Freiheit in diesem Land weiter ausdehnen. Ich denke nicht darüber nach, ob es effizient ist oder nicht. Es ist eine Frage von Werten und Prinzipien. (Markus Bernath, DER STANDARD, 29.11.2012)