Es geht bei den Protesten in Ägypten längst um mehr als nur um Präsident Mohammed Morsis unglückliche Verfassungserklärung: Sie war nur ein Anlass für die vielen in der ägyptischen Gesellschaft, die noch immer nicht fassen können, in welche Richtung ihr von einer autoritären Führung befreites Land nun geht. Wo sind alle die Behauptungen hin - in den arabischen Umsturzländern selbst und hier im Westen -, dass die arabischen Revolten auch das Ende des politischen Islam seien? Muslimbrüder und Salafisten haben in Ägypten die Wahlen gewonnen, Islamisten dominieren die Transition, und viele Ägypter und Ägypterinnen auf dem Tahrir-Platz und anderen Orten rennen noch einmal mit aller Kraft dagegen an.

Dass es den Demonstranten nicht in erster Linie um das Verhältnis des ägyptischen Präsidenten zur ägyptischen Justiz geht, ist auch den Amerikanern klar. US-Außenamtssprecherin Victoria Nuland schien Morsi beinahe in Schutz zu nehmen: Er sei weit entfernt von einem Autokraten, der "my way or the highway" sage. Im Grunde bezweifelt niemand, dass Morsi wirklich vorhat, sein Dekret, das ihn über die Justiz stellt, von der kommenden Verfassung wieder ablösen zu lassen - in der die Unabhängigkeit der Justiz nach jetzigem Stand durchaus gewahrt sein wird.

Allianzen

Aber die Demonstranten wollen diese Verfassung dennoch nicht, aus anderen Gründen: Es ist eine Verfassung, die von einer islamistisch dominierten Verfassungskommission geschrieben wird, welche von einem islamistisch dominierten Parlament eingerichtet wurde. Und der islamistische Präsident Ägyptens setzt zum Schutz der Verfassungsschreibung die Justiz außer Kraft.

Vor einem Jahr verlief die Spaltung in der ägyptischen Gesellschaft zwischen den revolutionären Kräften auf der einen Seite und der Armee und den beharrenden Kräften - nicht alle sind notgedrungen "Mubarakisten" - auf der anderen: Gemeinsam hatten sie das Interesse an Wahlen und an einer Entmachtung des Militärrats. Diesen schickte Morsi im August - übrigens auch mit einer Verfassungserklärung, in der er sich Rechte und Vollmachten einfach nahm - in den politischen Ruhestand und wurde noch von allen bejubelt.

Heute suchen und finden die nicht-islamistischen Revolutionäre ihre Verbündeten bei genau jenen Kräften des alten Regimes, die sie vor einem Jahr bekämpft haben. Es mag nur eine momentane Allianz sein. Aber zu glauben, dass alle Ägypter, die jetzt gegen Morsi demonstrieren, dies für eine unabhängige Justiz tun, ist naiv.

Paranoid

Auch Morsi und die Muslimbrüder wissen, dass es um Prinzipielles geht - und das macht sie wiederum so paranoid. Anstatt ihre früheren Weggefährten wieder einzufangen und ihnen zu sagen, wir wollen - wir müssen - mit euch einen Konsens über die Verfassung und die Institutionen finden, graben sie sich ein, als ginge es ihnen an den politischen Kragen.

Der Traum der Säkularen, die derzeitige Islamisierung Ägyptens rückgängig machen zu können, wird sich indes auch nicht erfüllen: Selbst wenn bei den kommenden Parlamentswahlen Wähler von den zwei islamischen Blöcken abspringen sollten, werden diese dennoch ihre gemeinsame Mehrheit nicht verlieren. Je mehr sich die revolutionären Kräfte und die Islamisten ineinander verbeißen, desto mehr freut sich der Dritte: die Leute des alten Regimes. (Gudrun Harrer, DER STANDARD, 29.11.2012)