Eslam Omar: "Die Revolution war erfolgreich, weil die Islamisten und die Liberalen zusammengearbeitet haben. Jetzt regieren die Islamisten und die Opposition nützt die Straße im Namen der Revolution, während auch Mursi und die seinen sich auf die Revolution berufen."

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Polizeieinsatz nahe des Tahrir-Platzes.

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Eslam Omar, Journalist bei der englischsprachigen ägyptischen Zeitung al-Ahram hat derzeit keine ruhige Minute. Fast rund um die Uhr berichtet er über den Machtkampf zwischen den islamischen und den liberalen Kräften in Ägypten. Im derStandard.at-Interview erklärt er die Hintergründe dieses Machtspiels in dem alle Player im Namen der Revolution ihre Interessen durchsetzen wollen. Dass Mursi seine umstrittene Erklärung, in der er sich der Kontrolle der Justiz teilweise entzieht, zurücknimmt, glaubt Omar nicht.

derStandard.at: Zahlreiche Menschen sind seit Tagen wieder am Tahrir-Platz und demonstrieren gegen Präsident Mohammed Mursis Verfassungserklärung, in der er sich und und das von Islamisten dominierte Verfassungskomitee der Kontrolle der Justiz entzieht. Wer sind die Demonstranten und wie ist die Situation am Tahrir-Platz?

Eslam Omar: Der Tahrir-Platz und andere zentrale Plätze in Ägypten sind voll mit Menschen unterschiedlichster Backgrounds. Liberale Kräfte führen die Proteste  an. Diese Leute vermischen sich mit Unterstützern des alten Mubarak-Regimes, die vermutlich erstmals am Tahrir-Platz sind. Ein Zelt in der Mitte des Tahrir-Platzes zum Beispiel gehört der bekannten Pro-Mubarak-Gruppe "We are sorry, President!" Sie wurden von den Demonstranten willkommen geheißen und sogar mit Tipps für Demonstranten versorgt. Was alle Demonstranten eint, ist das Misstrauen - oder sagen wir der Hass - gegenüber den Muslimbrüdern und der Wunsch, sie aus Machtpositionen zu vertreiben. 

Eigentlich hätte es auch eine Pro-Mursi-Demonstration geben sollen, aber die Organisatoren haben sie aus Angst vor möglichen Zusammenstößen verschoben. In einigen Städten hat es aber trotzdem Zusammenstöße gegeben, wie in El-Mahalla El-Kobra, einer bedeutenden Industriestadt am östlichen Arm des Nils. Hier attackierten einige Demonstranten den Sitz der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei der Muslimbrüder. Mehr als hundert Menschen sollen dabei verletzt worden sein, mindestens fünf davon schwer.

derStandard.at: Die Demonstranten verlangen aber teilweise auch den Rücktritt Mursis.

Omar: Die Hauptforderung ist die Rücknahme der Erklärung. Einige gehen mit ihren Forderungen weiter und rufen nach der Auflösung der verfassungsgebenden Versammlung. Aus meiner persönlichen Sicht ist die Ausgangslage eher politisch als revolutionär. Die antiislamischen politische Kräfte, die jetzt schon die meisten Medien des Lands dominieren, tun alles dafür, die öffentlichen Meinung in Richtung einer "Revolution gegen die Muslimbrüder" zu drehen. Sie wollen sie auf diese Weise loswerden, weil es ihnen auf demokratischem Weg, also über die Wahlen, nicht gelungen ist. Also bleibt ihnen nur die Straße.

Am Tahrir-Platz werden die Demonstranten wohl noch weiter ausharren, und zwar bis Mursi seine umstrittene Verfassungserklärung zurücknimmt. Eine große Demonstration ist für Freitag geplant.

derStandard.at: Präsident Mursi argumentierte seine Verfassungserklärung damit, dass sie zum Wohle der Revolution geschehe. Was sind Ihrer Meinung nach seine Motive?

Omar: Mursi und seine Unterstützer wiederholen immer, dass diese Erklärung abgegeben werden musste, um alle verantwortlichen Kräfte des Landes dazu anzutreiben, sich endlich an einen Tisch zu setzen und eine gemeinsame Verfassung zu finalisieren. Das Verfassungsgericht hat ja schon einmal die verfassungsgebende Versammlung aufgelöst, was dem Land ein Vermögen gekostet hat.

Die Ironie an der Geschichte ist, dass genau die Richter, die die Wahl zur verfassungsgebende Versammlung überwacht haben, die Versammlung später wieder auflösten. Es liegt nahe, dass das Verfassungsgericht aus politischen Motiven handelte, auch wenn es das Gegenteil behauptet. Die Frage ist: Machte Mursi diese umkämpfte Erklärung, um das Land vor dem Zusammenbruch der Institutionen zu schützen oder schützt er nur seine eigene Macht und die seiner Gruppierung, die bisher den Shura-Rat und in der verfassungsgebenden Versammlung dominiert?

derStandard.at: Wie weit wird Mursi gehen, um sich durchzusetzen?

Omar: Ich denke, er wird die Erklärung nicht zurücknehmen, wie auch schon sein Büro mitgeteilt hat. Er versuchte, nach dem Treffen mit dem Obersten Richterrat zu betonen, dass er die Unabhängigkeit der Justiz respektiere und die Dekrete nur Fragen der "Souveränität" beträfen. Das hat die Straße aber nicht besänftigt. Ich denke, Mursi würde gerne mit den liberalen Kräften verhandeln. Die sagen aber, dass sie nicht verhandeln, bevor Mursi die Erklärung nicht zurücknimmt.

derStandard.at: Mohammed ElBaradei fürchtet einen drohenden Bürgerkrieg. Wie ernst ist die Situation aus Ihrer Sicht?

Omar: Zurzeit von Bürgerkrieg zu sprechen ist übertrieben. Es ist ernst, ja, und im Land kocht es, aber von Bürgerkrieg kann nicht die Rede sein. Es handelt sich um keinen tief verankerten Konflikt, sondern um ein politisches Machtspiel. Selbst innerhalb von Familien gibt es unterschiedliche Meinungen dazu, ob jetzt die Liberalen oder die Islamisten im Recht sind. Zielgerichtete Gewalt passierte bisher nur vor dem Innenministerium, als Demonstranten Steine warfen und die Polizei mit Tränengas gegen sie vorging oder eben vor der Zentrale der Muslimbrüder. Die Zusammenstöße auf der Straße würden in dem Moment enden, in dem sich  Opposition und Präsidentschaftsbüro zusammensetzen.

derStandard.at: ElBaradei fordert außerdem die USA und den Westen auf, Hilfsgelder an Ägypten einzufrieren.

Omar: ElBaradei ist nicht mehr dieselbe Person, die damals gegen Mubarak aufgetreten ist. Er ist jetzt politisiert. Er war Präsidentschaftskandidat und gründet gerade eine politische Partei. Sollte der Westen Partei für die Liberalen und gegen die Muslimbruderschaft ergreifen, würde Mursi in der öffentlichen Meinung zum Helden werden, der für die Unabhängigkeit seines Landes einsteht.

derStandard.at: Ein Problem ist, dass die liberalen Parteien in der verfassungsgebenden Versammlung zerstritten sind, während die Muslimbrüder immer mehr Einfluss bekommen. Wie sehen Sie das?

Omar: Ich sehe keine wirkliche demokratische Debatte, was die Verfassung betrifft. Ich sehe nur politische und ideologische Auseinandersetzung. Alle wollen ihre Interessen durchsetzen. Ich habe keine Ahnung, ob die aktuelle Versammlung ihre Arbeit fortsetzen oder doch auseinanderbrechen wird. Mursi hat klargestellt, dass er will, dass die Versammlung weiterarbeitet. Die Opposition hat eine andere Meinung.

derStandard.at: Vor nicht allzu langer Zeit war Mursi noch selbst ein Teil der Revolution. Jetzt wird er schon als "neuer Diktator" bezeichnet. Ist die ägyptische Revolution gescheitert?

Omar: Die Frage ist, von wem er als "neuer Diktator" bezeichnet wird? Es wäre ratsam für die westlichen Medien, die am Tahrir-Platz vorherrschende Meinung nicht als einzige Stimme des Volkes zu verkaufen, zumindest nicht jetzt. Vergangenen Freitag fand eine riesige Demonstration für Mursi statt. Die Proteste in Ägypten sind nun politischer Natur. Ein Ringen der Kräfte ganz nach dem Vorbild der griechischen Demokratie. Schließlich sprechen wir über einen Präsidenten, der von 51,5 Prozent der Menschen gewählt wurde. 12 Millionen Ägypter wählten hingegen bei dieser Wahl Ahmed Shafik, den letzten Premierminister der Mubarak-Ära, weil sie nicht wollten, dass Ägypten von einem Mitglied der Muslimbrüder regiert wird.

Die Revolution war erfolgreich, weil die Islamisten und die Liberalen zusammengearbeitet haben. Jetzt regieren die Islamisten und die Opposition nützt die Straße im Namen der Revolution, während auch Mursi und die seinen sich auf die Revolution berufen. Die Volksrevolution setzte sich allerdings nie für einen säkularen oder islamischen Staat ein, sondern für Brot, Freiheit und Gerechtigkeit. (derStandard.at, 28.11.2012)