"Uns interessiert der Habitus der Überlebenskunst", beschreibt Erol Yildiz seine aktuelles Forschungsfeld.

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STANDARD: Laut dem European Union Democracy Observatory misst das österreichische Staatsbürgerschaftsrecht mit zweierlei Maß: Bei normalen Antragstellern ist es überdurchschnittlich streng, bei Privilegierten sehr liberal. Wie sehen Sie das?

Yildiz: Ich finde: Wenn jemand hierbleiben will, sollte er oder sie auch das Staatsbürgerrecht bekommen - so wie das etwa in Kanada der Fall ist. Ich halte es für problematisch, die Staatsbürgerschaft an erbrachte Leistungen zu knüpfen. Mit gleichem Recht könnte man auch ein paar Einheimische ausbürgern.

STANDARD: In Nordamerika scheint die Identifikation der Einwanderer mit ihrem neuen Heimatland größer zu sein als in Europa. Warum?

Yildiz: Der Unterschied hat wohl mit dem europäischen Nationalbewusstsein zu tun. Hier wird oft gesagt: "Die müssen erst Demokratie lernen, bis sie wählen dürfen." Das ist doch ein feudales Argument! Früher hat man das Gleiche beim Frauenwahlrecht behauptet. Hier wird die Kultur vorgeschoben, um den Ausschluss bestimmter Gruppen zu legitimieren.

STANDARD: Ein Bekenntnis zur Kultur des neuen Heimatlandes wäre aber auch kein Nachteil, oder?

Yildiz: Nehmen Sie beispielsweise Toronto: Da gibt es griechische oder indische Viertel - niemand würde dort auf die Idee kommen, dies eine " Parallelgesellschaft" zu nennen. Kanadier zu sein bedeutet nicht, dass man aufhören muss, Grieche oder Inder zu sein. Kanadier zu sein bedeutet, sich zur Verfassung zu bekennen. Der Rest ist Privatangelegenheit. Im Übrigen ist "Parallelgesellschaft" ein Begriff, der in der Wissenschaft eine ganz andere Bedeutung hat. Er wurde 1997 vom Bielefelder Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer geprägt - und zwar in einer Studie über Fundamentalismus bei türkischen Jugendlichen. In der öffentlichen Debatte wird er nun in Zusammenhang mit allen Migranten verwendet. Der Begriff führt quasi ein Eigenleben.

STANDARD: Was unterscheidet den Durchschnittsmigranten vom Durchschnittsösterreicher?

Yildiz: Eigentlich nur die äußere Wahrnehmung. Auch Migranten umfassen die gesamte sozioökonomische Bandbreite: Arbeiter, Arbeitslose, finanziell Bessergestellte, Religiöse und Kosmopoliten. Diese Gruppen findet man natürlich auch bei den Einheimischen. Statistisch gesehen gibt es keine wesentlichen Unterschiede. Aber es existieren sehr wohl gesellschaftliche Vorstellungen darüber, was Migranten sind, nämlich Menschen, die aus sogenannten Drittstaaten stammen. Diese Vorstellung ist ein Mythos.

STANDARD: Sie untersuchen die Lebens- und Erwerbsstrategien von Migranten in Österreich, Deutschland und der Schweiz. Worum geht es bei diesem Forschungsprojekt?

Yildiz: Wir untersuchen seit Oktober Stadtteile von Klagenfurt, Freiburg und Basel, in denen vor allem finanzschwächere Bevölkerungsteile leben - sowohl Einheimische als auch Menschen mit Migrationshintergrund. Diese Stadtteile werden von außen sehr negativ wahrgenommen. In den Medien kommen sie oft im Zusammenhang mit den Themen Drogen und Asylmissbrauch vor. In Klagenfurt ist das beispielsweise das Bahnhofsviertel im Bezirk St. Ruprecht. Wir wollen wissen: Wie leben und überleben die Menschen in diesem Viertel? Uns interessiert der Habitus der Überlebenskunst.

STANDARD: Haben Sie eine Vermutung, wie dieser Habitus aussieht?

Yildiz: Ich habe in Köln eine ähnliche Studie durchgeführt, bei der es um den Bildungserfolg von Jugendlichen mit Migrationshintergrund ging. Sie hat gezeigt: Die familiären Ressourcen spielen eine sehr wichtige Rolle. Ein Beispiel: Wenn jemand im erweiterten Familienverband erfolgreich ist, also etwa auf die Universität geht, dann werden die Kinder zu dieser Person geschickt, damit er oder sie diese unterstützt. Der Zugang zu Bildung wird informell über die Familie organisiert. Ich vermute, dass es in Klagenfurt, Basel und Freiburg ähnlich ist.

STANDARD: Inwiefern unterscheiden sich die Überlebensstrategien von unterprivilegierten Österreichern und Migranten?

Yildiz: Laut Interviews, die wir in den letzten Jah-ren an Kärntner Schulen durchgeführt haben, sind Migrantenfamilien besser vernetzt. Und sie sind stärker daran interessiert, sich gesellschaftlich zu verbessern. Der Direktor einer Hauptschule sagte: "Wir haben eher Probleme mit Einheimischen." Das war auch für mich überraschend.

STANDARD: Sehen Sie in Österreich, Deutschland und der Schweiz unterschiedliche Integrationsstile?

Yildiz: Zumindest sind die Voraussetzungen andere. In Basel hat man seit 20 Jahren ein Integrationskonzept, in Klagenfurt und Freiburg gibt es gar keines. Ob die Migranten davon in Basel profitieren, wissen wir nicht. Das wollen wir herausfinden.

STANDARD: Was sind die Kernpunkte des Baseler Konzepts?

Yildiz: Erstens sieht man Migration als wesentlichen Bestandteil der Stadtentwicklung an. Zweitens fordert das Konzept eine aktive Politik am Arbeitsmarkt, etwa dass mehr Migranten in die Verwaltung aufgenommen werden.

STANDARD: Wenn Sie Politiker in Klagenfurt wären: Was würden Sie tun?

Yildiz: In Villach wird gerade ein Integrationsleitbild entwickelt. So etwas bräuchte Klagenfurt auch. Momentan gibt es keine Expertise. Die meisten Klagenfurter Politiker interessieren sich wenig dafür, was in Kärnten zu diesem Thema passiert. (Robert Czepel, DER STANDARD, 28.11.2012)