Berta Zuckerkandl mit ihrem Enkel Emile (um 1930).

Foto: Österreichische Nationalbibliothek

Postkarte von Maurice Ravel an Gertrude Zuckerkandl aus dem Jahr 1920.

Foto: Österreichische Nationalbibliothek

Wien - Im Album vom 4. Juni 2011 berichtete der STANDARD unter dem Titel Ein Abschied für immer über die Irrwege zweier Cousins in der NS-Zeit: Emile Zuckerkandl floh nach Paris und weiter nach Algier, Georges Jorisch musste in Brüssel untertauchen. Der Autor dieser Zeilen hatte kurz zuvor die beiden alten Herren in Palo Alto bzw. Montreal besucht. Und Zuckerkandl öffnete dem Standard sein unglaubliches Archiv.

Der renommierte Biologe, am 4. Juli 1922 geboren, entstammt einer der bekanntesten jüdischen Familien Wiens: Er ist der Enkel der Journalistin Berta Zuckerkandl, die in ihrer Wohnung über dem Café Landtmann einen legendären Salon führte. Deren Vater war Moriz Szeps, einer der einflussreichsten liberalen Journalisten der Monarchie. Und deren Ehemann war der Anatomieprofessor Emil Zuckerkandl, nach dem u. a. ein Organ benannt ist. Über ihre Schwester, die Paul Clemenceau, den Bruder des nachmaligen französischen Ministerpräsidenten, geheiratet hatte, war Berta Zuckerkandl außerdem eng mit dem politischen und kulturellen Leben Frankreichs verbunden.

Auch wenn sich Emile Zuckerkandl eigentlich nicht von seinen Schätzen trennen wollte: Ihm war es wichtig, sie zu seinen Lebzeiten - Cousin Georges Jorisch starb Ende September - gut untergebracht zu wissen. Auf Anregung des Standard reiste Bernhard Fetz, Leiter des ÖNB-Literaturarchivs, nach Palo Alto, um die Dokumente zu sichten. In der Folge erwarb die Nationalbibliothek die Sammlung um 92.500 Euro - mit Unterstützung der Gesellschaft der Freunde der ÖNB, die gut zwei Drittel der Summe aufbrachte. Das umfangreiche Material befindet sich bereits zum Großteil in Wien.

Emile Zuckerkandl bezeichnete die Nationalbibliothek in Wien als den einzig richtigen Ort. Und für ÖNB-Generaldirektorin Johanna Rachinger ist die Sammlung "von unschätzbarem Wert als Verfolgung und Exil überdauerndes Zeugnis jener vernichteten einzigartigen Kultur im Wien bis 1938".

Bereits als Elfjähriger bat Emile Zuckerkandl seine Großmutter um Autografen berühmter Persönlichkeiten bzw. die Gäste im Salon um Einträge in sein Album. Unter den Briefschreibern finden sich Schriftsteller wie Peter Altenberg, Egon Friedell, Alfred Polgar, Arthur Schnitzler, Stefan Zweig, Felix Salten, Rainer Maria Rilke, Jean Anouilh, André Gide und Romain Rolland. Ein besonderes Sammelstück stellt ein Brief Jules Vernes aus dem Jahr 1874 dar, das Berta Zuckerkandl ihrem Enkel zu Ostern 1935 schenkte. Weitere Highlights sind ein Manuskriptfragment von Kronprinz Rudolf an Moriz Szeps aus 1886 zur politischen Situation in Osteuropa und eine Postkarte von Maurice Ravel an Gertrude Zuckerkandl: Der Komponist notierte darauf das Thema des Donauwalzers.

Die laut Bernhard Fetz "einzigartige Sammlung" beinhaltet aber auch Korrespondenzstücke von Egon Schiele, Otto Wagner, Koloman Moser, Josef Hoffmann, Walter Gropius, Max Reinhardt, Alexander und Johanna Moissi, Berta von Suttner und vielen anderen an Berta Zuckerkandl.

Ein besonderes Dokument ist der auf Französisch und Deutsch geschriebene Bericht Berta Zuckerkandls über ihre Flucht durch Frankreich. Er wird im Rahmen der Ausstellung Nacht über Österreich. Der Anschluss 1938 - Flucht und Vertreibung von 7. März bis 28. April 2013 im Prunksaal der ÖNB ausgestellt. Eine kommentierte Edition dieses Tagebuchs erscheint bei Czernin unter dem Titel Flucht! Von Bourges nach Algier im Sommer 1940. Sie wird von Theresia Klugsberger und der Provenienzforscherin Ruth Pleyer herausgegeben, die sich viele Jahre um Restitutionen an die Zuckerkandls - es geht u. a. um das Sanatorium Purkersdorf - bemühte. (Thomas Trenkler, DER STANDARD, 27.11.2012)