Vatileaks: Römischer Narzissmus als Fall für Amnesty International.

Montage: Der STANDARD

Wo bleibt eigentlich Amnesty International? Seit einem Monat sitzt nun der päpstliche Kammerdiener in Haft. Zuvor war er schon 53 Tage im Untersuchungsgefängnis weggesperrt. Von den vatikanischen Richtern hat er in Summe eineinhalb Jahre aufgebrummt bekommen. Wie schon einmal von Churchwatch angemerkt, ist bis heute nicht ersichtlich, worin der ihm vorgeworfene "schwere Diebstahl" besteht. In einem entwickelten Rechtsstaat, in dem auch die Menschenrechte gelten, ist es kaum denkbar, dass ein bislang unbescholtener Bürger für Indiskretionen so rigoros bestraft wird. 

Die römische Kurie sieht das freilich anders. Die Strafe sei "milde und ausgewogen", wie es in einer offiziellen Erklärung heißt. Der Kammerdiener habe nämlich "den Papst durch sein Verhalten persönlich beleidigt." Wenn Herrschaft so gelebt und Majestätsbeleidigung so interpretiert wird, ist es wirklich an der Zeit, dass sich Menschrechtsorganisationen um diesen Fall annehmen.

Gerade dieser Fall macht besonders deutlich, welch pathologischer Narzissmus an der Spitze der katholischen Weltkirche herrscht.

Diese Krankheit wird unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass der Patient an einem ungewöhnlichen Maß an Selbstbezogenheit leidet, ein übertrieben starkes Bedürfnis hat, von anderen bewundert und geliebt zu werden, und über andere Menschen ohne jegliche Schuldgefühle herrscht und verfügt (vgl. Otto F. Kernberg, Borderline-Störungen und pathologischer Narzissmus). Da steht einem doch sofort die römische Selbstinszenierung vor Augen.

Noch einmal: Der einzige plausible Vorwurf gegen den Kammerdiener, den die jüngste vatikanische Erklärung nennt, besteht darin, dass "das Recht auf Vertraulichkeit vieler Personen verletzt" wurde, „die sich an den Papst gewandt hätten." Das kann aber nicht ein so rigoroses Strafmaß begründen.

Gerechtfertigt wird die Strafe von den Römern befremdlicher Weise auch damit, dass das Durchsickern der päpstlichen Post zu Empörung unter den Gläubigen geführt hätte. Keine Sekunde berücksichtigt man, dass das Empörende nicht die Veröffentlichung der Dokumente ist, sondern das intrigante Verhalten der römischen Kurie, das in den Briefen deutlich wird.

Liest man beispielsweise Gianluigi Nuzzis "Seine Heiligkeit" (wobei in diesem Zusammenhang unerheblich ist, ob diese vielleicht sogar aus einer anderen Quelle stammen), so sind es oft weniger die aufgedeckten Sachverhalte, sondern die bizarren Blüten des römischen Biotops, die Befremden auslösen. Z.B. wenn ein ausgewachsener Kardinal seine Intrigantenpost mit „ich versichere Eurer Heiligkeit meine vollständige Unterwerfung" abschließt. Das könnte doch eher aus einem schlechten Sado-Maso-Roman stammen.

Die römischen Prälaten versteigen sich aber zu anderen verschrobenen Argumenten für ihre unerbittliche Strafaktion: Für mehrere Monate, so die Verlautbarung, sei die "Unbeschwertheit" der täglichen Arbeit in den Einrichtungen des Heiligen Stuhls gestört worden. Wer bisher die idealistische Einschätzung hatte, dass die Kardinäle, die das Purpur ihrer Gewänder vom Blut der Märtyrern herleiten, gerade deshalb eine ehelose Lebensform wählen, weil sie rund um die Uhr gegen die Armut der Welt kämpfen, in politische Konflikten vermittelten und sich in brennender Sorge verfolgten Menschen widmen, wird nun aufgeklärt, was das tatsächliche Ziel der dortigen Karrieristen ist - ein unbeschwertes Leben in den vatikanischen Gärten. Wer stört wird aus-, bzw. in diesem Fall eingesperrt.

Vielleicht nimmt der Papst das kommende Weihnachtsfest zum Anlass einer Begnadigung. Das wäre schön für den Butler. Gleichzeitig die letzte Chance Benedikts, seine bisherige Unbarmherzigkeit mit einem Marketinggag zu kaschieren.

PS: Im Übrigen bin ich der Meinung, dass die Verantwortung der Päpste und des Vatikans am internationalen Missbrauchsskandal geklärt werden muss. Der derzeitige Papst hat bisher lediglich zur Schuld einzelner Priester und Bischöfe Stellung genommen. Zu den Vorgängen innerhalb der vatikanischen Mauern fand er kein Wort. Benedikts beharrliches Schweigen dazu macht ihn als Papst unglaubwürdig.

PPS: Den nächsten Blog gibt es am 10. Dezember. (Wolfgang Bergmann, derStandard.at, 26.11.2012)